Bertha Pappenheim – Pionierin der Frauenbewegung

Bertha Pappenheim © Leo Baeck Institute NY, Art Collection, 77.57.

Bertha Pappenheim (1859–1936) war eine der bedeutendsten deutsch-jüdischen Frauenrechtlerinnen und Sozialreformerinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Sie wurde zunächst als »Anna O.« durch die Fallgeschichte in Breuer und Freuds Studien über Hysterie bekannt, ging jedoch später weit über diese Rolle hinaus: Als Gründerin des Jüdischen Frauenbundes, Organisatorin zahlreicher sozialer Projekte und internationale Kämpferin gegen den Mädchenhandel prägte sie die moderne Sozialarbeit in Deutschland entscheidend mit. Ihr Engagement verband die Anliegen der Frauenbewegung mit den spezifischen Bedürfnissen jüdischer Frauen und machte sie zu einer Schlüsselfigur an der Schnittstelle von Feminismus, Judentum und Wohlfahrt.

Dr. Elizabeth Loentz ist eine Germanistin und Professorin an der University of Illinois in Chicago. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, jiddische Sprache und Diskurse zu Jiddisch im deutschsprachigen Raum, Frauen- und Geschlechterforschung sowie Erinnerungskultur. Besonders bekannt ist sie für ihre Arbeiten zu Bertha Pappenheim und zur Rolle jüdischer Frauen in der deutschen Frauenbewegung.

Lutz Vössing sprach mit Elizabeth Loentz über die Ikone der Frauenbewegung Bertha Pappenheim.

Bertha Pappenheim gehört sicherlich zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Was brachte Sie persönlich dazu, sich mit ihr zu beschäftigen?

Mein Weg zu Bertha Pappenheim war ein Umweg. Anfang der 1990er-Jahre unterrichtete ich Deutsch im Haus Chevalier, einer »Clearingstelle« für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Hallbergmoos bei München. Damals war das Haus Chevalier ein »Pilotprojekt« und die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Zu dieser Zeit war Deutschland nicht darauf vorbereitet, die wachsende Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge angemessen zu betreuen. Da sie bis zum 16. Lebensjahr keinen eigenen Asylantrag stellen durften und zu jung waren, um in Unterkünften für erwachsene Asylbewerberinnen und deren Familien zu leben, fielen viele Jugendliche durchs Raster der sozialen Versorgung. Das Haus Chevalier wollte diese Lücke schließen, indem es als »Clearingstelle« fungierte: Sozialarbeiter:innen ermittelten die Umstände, unter denen die Jugendlichen nach Deutschland gekommen waren, und organisierten Vormünder sowie Unterkünfte. Die Kinder, die ich unterrichtete – 12 bis 17 Jahre alt, aus dem Kosovo, Mazedonien, Somalia, Äthiopien, Gambia, Sierra Leone, Afghanistan, Sri Lanka, China, Vietnam, Albanien und Rumänien, darunter nur wenige Mädchen, die zumeist unverheiratete Mütter waren – ähnelten in vielerlei Hinsicht den Pogrom- und Kriegswaisen, Flüchtlingen und ledigen Müttern, für die sich Bertha Pappenheim eingesetzt hatte. Als ich in die USA zurückkehrte, um meine Promotion zu machen, lernte ich Pappenheim in einem Seminar über deutsch-jüdische Autorinnen kennen, und ich fühlte mich zu dieser Autorin und Aktivistin hingezogen, die ihr Leben genau der Arbeit gewidmet hatte, die ich selbst aufgegeben hatte, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

Aus was für einer Familie stammte sie und wie hat diese sie geprägt?

Bertha Pappenheim wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf, die orthodoxe religiöse Tradition mit weltlicher Bildung und Kultur verband. Ihr Vater, der Kaufmann Siegmund Pappenheim, war 1840 aus Pressburg (dem heutigen Bratislava) nach Wien gezogen. Ihre Mutter, Recha Pappenheim (geb. Goldschmidt), entstammte einer angesehenen jüdischen Familie aus Frankfurt am Main. Wie es für Mädchen ihrer sozialen Schicht üblich war, besuchte Bertha bis zu ihrem 15. Lebensjahr eine katholische Mädchenschule. Trotz ihrer Intelligenz und Begabung blieb ihr die höhere Bildung, die ihr Bruder Wilhelm erhielt, verwehrt. Stattdessen wurde sie in »weiblichen« Fertigkeiten unterwiesen – Fremdsprachen, Musik, Tanz und Handarbeit – und auf eine Ehe vorbereitet, die nie zustande kam. Ihr ganzes Leben lang beklagte sie diesen Mangel an formaler Bildung; einige ihrer ersten Aktivitäten in der deutschen Frauenbewegung galten daher der Frauenbildung. 1895 arbeitete sie als Schriftführerin des Vereins für Frauenbildung und Frauenstudium der Frankfurter Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF).

Ihr Vater unterstützte die private, überwiegend ungarische und streng orthodoxe »Schiffschul«. Auch wenn Pappenheim nie darüber schrieb, vermute ich, dass die tiefen Spaltungen innerhalb der Wiener jüdischen Gemeinde, die entstanden, als die Schiffschul nach den liturgischen Reformen von 1872 aus der Gemeinde austreten wollte, zu ihrer späteren Weigerung beigetragen haben könnten, sich als orthodox zu bezeichnen – auch wenn sie zeitlebens streng religiös blieb. Sie lehnte alle Parteibezeichnungen ab und betonte, sie sei weder orthodox noch reformistisch, weder Zionistin noch Central-Verein. Diese Neutralität sei entscheidend für ihre Führungsrolle im Jüdischen Frauenbund (JFB) gewesen, der jüdische Frauen aller religiösen und politischen Richtungen vereinen wollte.

Was bedeutete der Umzug aus Wien nach Frankfurt für Bertha Pappenheim?

Pappenheims Umzug nach Frankfurt 1888, nach ihrer Genesung von der psychischen Erkrankung, die als Fallstudie »Anna O.« in Breuer und Freuds Studien über Hysterie bekannt wurde, war vermutlich auch der Versuch, dem Stigma ihrer Krankheit zu entkommen, die laut ihrem Cousin Paul Homburger in Wien »allgemein bekannt« gewesen sei. Offenbar verschwieg sie ihre Erkrankung selbst den engsten Vertrauten. In einer Sonderausgabe der Blätter des Jüdischen Frauenbundes zu ihrem Andenken hieß es sogar, sie sei bereits 1881 – im Jahr des Todes ihres Vaters – nach Frankfurt gezogen. Damit umging man ihre Behandlung bei Breuer und die jahrelangen Rückfälle danach.

Der Umzug bedeutete für sie offenbar einen Neuanfang und die Freiheit, sich öffentlich zu engagieren. In den mittleren bis späten 1890er-Jahren war sie eine prägende Figur der Frauenbewegung in Frankfurt. 1895 beteiligte sie sich an der Gründung der Frankfurter Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins und ein Jahr später an der BDF »Frauenlandsturm« zur Verbesserung der Frauenrechte im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). In dieser Zeit veröffentlichte sie erste Werke: ihre Übersetzung von Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Woman, ihr erstes Theaterstück Frauenrecht, sowie Aufsätze zu sozialen Fragen, Sozialarbeit, Pädagogik, Frauenrechten und Frauen im Judentum. Gleichzeitig engagierte sie sich zunehmend in der jüdischen Sozialarbeit Frankfurts.

Wie kam sie zur Krankenpflege? / Wann begann sie sich in karitativen Projekten zu beschäftigen?

1882, nach einer Behandlung in einer Privatklinik in Kreuzlingen, besuchte Pappenheim Verwandte in Karlsruhe und nahm als Gasthörerin an einem vom Badischen Frauenverein organisierten Krankenpflegekurs teil. Sie schloss den Kurs nicht ab und kehrte nicht zur Krankenpflege zurück.

Wann begann sie sich in karitativen Projekten zu engagieren?

Nach ihrem Umzug nach Frankfurt sechs Jahre später widmete sie sich dann ehrenamtlich anderen Bereichen der Sozialarbeit, vor allem innerhalb der jüdischen Gemeinde. Zunächst arbeitete sie in einer Suppenküche für vorwiegend osteuropäische jüdische Einwanderer und Geflüchtete. 1895 gründete und leitete sie die »Unentgeltliche Flickschule«, die im Laufe der Zeit über 10.000 Frauen zugutekam. Im selben Jahr wurde sie Heimmutter eines Waisenhauses für jüdische Mädchen – ihre erste größere Position als Leiterin und Pädagogin.

Engagierte sie sich auch politisch?

Obwohl Pappenheim zweifellos zu den einflussreichsten deutsch-jüdischen Frauen ihrer Zeit gehörte, mischte sie sich nur selten direkt in die deutsche Politik ein. Ausnahmen waren ihre Beteiligung an der »Frauenlandsturm«-Kampagne von 1896 zur Verbesserung der Frauenrechte im neuen BGB und eine Rede 1930 gegen die Legalisierung von Abtreibungen. 1897 veröffentlichte sie sogar Aufsätze, in denen sie sich gegen das Frauenwahlrecht aussprach – eine Haltung, die sie später revidierte. Mit dem Jüdischen Frauenbund (JFB) kämpfte sie jedoch für das aktive und passive Wahlrecht von Frauen innerhalb der jüdischen Gemeinde.

Einfluss hatte sie vor allem zivilgesellschaftlich.

Genau. 1902 gründete sie die Organisation „Weibliche Fürsorge“, die die Arbeit der jüdischen Gemeinde, der Stadt Frankfurt und der lokalen Frauenbewegung koordinierte. Ziel war es, Berufsausbildung und Arbeitsvermittlung, Rechtsberatung, Unterstützung für stillende Mütter, Kinderbetreuung, eine Bahnhofsmission sowie ein Heim und einen Mädchenklub für osteuropäische jüdische Einwanderinnen und Geflüchtete anzubieten. Bald weitete die „Weibliche Fürsorge“ ihre Arbeit ins Ausland aus, vor allem nach Galizien, wo in Zusammenarbeit mit anderen jüdischen Organisationen ähnliche Einrichtungen entstanden.

Die Weibliche Fürsorge. Porträt des 1. Vorstands, u.a. mit Henriette Fuerth (Katzenstein), Henny Elkan, Sidorie Dann und Bertha Pappenheim (1. Reihe, 2. v.l.)

Wie war ihre Wirkung?

Pappenheim modernisierte die jüdische Sozialarbeit nachhaltig. Sie bestand darauf, dass ehrenamtliche Helferinnen nach zeitgemäßen Methoden der sozialen Arbeit – etwa Fallarbeit – geschult wurden, und machte »Weibliche Fürsorge« so zu einem Vorbild für ähnliche, von Frauen geleitete jüdische Selbsthilfeeinrichtungen in Mittel- und Osteuropa.

Eines ihrer bekanntesten Projekte war wohl der Jüdische Frauenbund. Können Sie dazu etwas erzählen?

1904 gründete sie gemeinsam mit Sidonie Werner den JFB und war dessen erste Vorsitzende. In dieser Funktion wurde sie später auch in den Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) gewählt. Auf dem Höhepunkt seiner Arbeit gehörte fast ein Viertel aller deutsch-jüdischen Frauen dem JFB an. In den 1920er-Jahren umfasste er 34 Ortsgruppen, 430 angeschlossene Vereine und 50.000 Mitglieder. 1914 organisierte der JFB den ersten internationalen Kongress jüdischer Frauen, bei dem die International Council of Jewish Women gegründet wurde. Pappenheim und Sadie American wurden zu deren ersten Vorsitzenden gewählt.

Kinder im Heim des Jüdischen Frauenbundes © LBI NY | Berlin

Was war das Ziel des JFB?

Der JFB orientierte sich stets an den Zielen der gemäßigten deutschen Frauenbewegung, passte diese aber den spezifischen Belangen jüdischer Frauen und der jüdischen Gemeinschaft an. In einer Broschüre wurde das Programm des JFB als Baum dargestellt: Die Äste standen für die verschiedenen Aufgabenfelder – Kranken- und Altenpflege, Jugendfürsorge (inklusive der 1907 von Pappenheim gegründeten und bis zu ihrem Tod geleiteten Heim für gefährdete Mädchen und ledige Mütter in Isenburg), Mutterschutz, Armenpflege, Beteiligung am jüdischen Gemeindeleben (inklusive Verbesserung der Rechtsstellung jüdischer Frauen), Beruf und Erwerbsarbeit von Frauen, Bildung, kulturelle Arbeit und die »Sittlichkeitsbewegung«.

Was machte ihn besonders?

Besonders am JFB war, dass er jüdische Frauen unterschiedlicher religiöser und politischer Richtungen – Reform, Orthodoxie, Zionismus, Central-Verein – vereinen konnte und es schaffte, Jüdinnen in der allgemeinen Frauenbewegung sichtbar zu machen.

In welchen anderen Bereichen war sie aktiv?

Ihre Führungsarbeit beschränkte sich nicht auf Frauenorganisationen. 1916 veröffentlichte sie den Aufsatz »Wehe dem, dessen Gewissen schläft«, in dem sie die Schaffung eines nationalen jüdischen Wohlfahrtsverbandes forderte, der die vielen gemeindlichen und unabhängigen Wohlfahrts- und Hilfsorganisationen koordinieren sollte. Dank ihres unermüdlichen Einsatzes wurde 1917 die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland gegründet, bei dem sie stellvertretende Vorsitzende wurde. Außerdem war sie eine führende Stimme in der internationalen Bewegung gegen den sogenannten »Mädchenhandel«.

Foto Pappenheims © LBI NY | Berlin
Foto Pappenheims © LBI NY | Berlin

Pappenheim kritisierte das Frauenbild in der jüdischen Religion. Können Sie dazu mehr erzählen?

In einem ihrer Aphorismen (genannt Denkzettel) schrieb sie:

»Liebe Töchter! Wenn ich mir eine Bibelkritik erlauben dürfte, würde ich sagen, dass aus der ungerechten Stellung, die die Bibel der Frau zuweist, klar hervorgeht, dass sie die Niederschrift eines genialen, aber männlichen Menschen ist und nicht ein göttliches Diktat – d. h. die logische notwendige Folge des gottgewollten Unterschiedes der Geschlechter.«

Ihre schärfste Kritik der Rolle der Frau im Judentum äußerte sie in ihrer Rede «Die Sittlichkeitsfrage« auf der zweiten Delegiertenkonferenz des JFB im Oktober 1907. Die folgenden Worte lösten einen Skandal in der deutsch-jüdischen Presse aus:

»Wir Frauen aller Kulturländer wehren uns dagegen, vor dem Gesetz mit Idioten und Kindern gleichgestellt zu werden, weil wir die Wirkung dieser Zurücksetzung als Hemmschuh unserer Entwicklung erkennen gelernt haben. Und die jüdische Frau? Seit Jahrhunderten genoss sie innerhalb des jüdischen Gemeindelebens, seiner Kultur und Kultuswelt, die für Juden lange Zeit identisch war, noch nicht einmal die Rechte eines dreizehnjährigen Knaben. Der dreizehnjährige Knabe, ein Kind, empfängt die Weihe der Selbstverantwortung; er wird in die Gemeinde aufgenommen, bei Gebetsversammlungen zählt er mit, an Ritualen nimmt er teil, er hat Anspruch und Anteil an der Tora, er kann die reine Lehre aufnehmen, sich in ihr stärken und begeistern, sein sittliches Empfinden verfeinern! – Und die Frau in der jüdischen Gemeinde? Sie zählt nicht, sie gilt nichts, sie lernt nichts, ihr Geist braucht keine Kraft und Anmut. […] Vor dem jüdischen Gesetz ist die Frau kein Individuum, keine Persönlichkeit; nur als Gattin und Mutter wird sie gewertet und beurteilt.«

Pappenheim wandte sich damit nicht gegen die traditionelle Vorstellung, dass die Mutterschaft die wichtigste Aufgabe der Frau sei – diese Auffassung teilten viele gemäßigte Feministinnen ihrer Zeit. Sie kritisierte aber, dass Frauen im Judentum faktisch auf »Geschlechtswesen« reduziert würden, deren geistige Bedürfnisse und Persönlichkeit keine Rolle spielten. Dies könne, so Pappenheim, Jüdinnen entfremden und im Extremfall sogar zu Abkehr vom Judentum oder zu moralischem Verfall führen.

Sie machte insbesondere den Ausschluss von Frauen aus dem religiösen Studium für deren mindere Stellung verantwortlich. In ihrem Aufsatz »Die Frau im kirchlichen und religiösen Leben« (1912) schrieb sie:

»Wir jüdischen Frauen müssen auch Lob und Tadel, Huldigung und Verurteilung unseres Geschlechtes, wo sie uns als Destillat einer ungeheuren Aufhäufung von Literatur entgegengebracht werden, widerspruchslos hinnehmen, so wie sie durch die Brille der männlichen Schriftgelehrten und Forscher gesehen werden.«

Bertha Pappenheim mit Hannah Kaminski auf der Konferenz des Jüdischen Frauenbunds © LBI NY | Berlin

Was waren ihre Forderungen?

Paradoxerweise forderte sie nicht, dass Frauen die gleiche textbasierte religiöse Ausbildung wie Männer erhalten sollten. Stattdessen argumentierte sie, dass Frauen über eigene Kompetenz- und Wissensbereiche verfügten, die gewürdigt, gepflegt und durch eine religiöse Erziehung, die auf weibliche Rollen und Werte ausgerichtet war, weiterentwickelt werden sollten, und dass Frauen aufgrund dieses inhärenten Unterschieds innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine relative Gleichberechtigung erlangen sollten. In ihrer Eröffnungsrede auf dem Zweiten Delegiertentage des Jüdischen Frauenbundes (JFB) hatte Pappenheim bereits benannt, welche Bereiche als Domäne der Frauen gelten sollten: »Man braucht keine engagierte Frauenrechtlerin zu sein, um zu wissen und einzusehen, daß Frauen und Kinderinteressen am besten von uns Frauen vertreten werden.«

Ausschnitt aus dem Portrait von Joseph Oppenheimer, Pappenheim mit 75 Jahren © LBI NY | Berlin
Ausschnitt aus dem Porträt von Joseph Oppenheimer, Pappenheim mit 75 Jahren © LBI NY | Berlin

Was macht es heute noch so spannend, sich mit ihrer Person zu beschäftigen?

Ich sehe Pappenheim als Vorläuferin einer intersektionalen Frauenbewegung. Schon vor über hundert Jahren erkannte sie, dass Frauen einer Minderheit (in ihrem Fall Jüdinnen) andere Anliegen und eine andere Erfahrung mit dem Patriarchat hatten als Frauen der Mehrheitsgesellschaft – und dass sie auch eine andere Erfahrung mit Rassismus (Antisemitismus) machten als Männer derselben Minderheit. Sie wusste auch, dass christliche Feministinnen trotz eigener Diskriminierungserfahrungen nicht frei von Antisemitismus waren und jüdische Männer trotz eigener Erfahrungen mit Antisemitismus nicht frei von Frauenfeindlichkeit. Da jüdische Frauen sowohl innerhalb der männlich dominierten jüdischen Gemeinschaft als auch in der deutschen Frauenbewegung marginalisiert wurden, gründete sie eine deutsch-jüdische Frauenbewegung, die eigenständig war, aber eng mit der deutschen Frauenbewegung vernetzt blieb – und bestand auf jüdischer Sichtbarkeit innerhalb dieser.

Ich bin der Ansicht, dass ihr Wirken auch als Vorläufer zeitgenössischer transnationaler Frauenbewegungen und -organisationen gelten kann. Sie war gemeinsam mit Sadie American Mitbegründerin der International Council of Jewish Women; zudem arbeitete sie grenzüberschreitend – in ihrer Tätigkeit für Flüchtlinge und verarmte jüdische Gemeinden in Osteuropa ebenso wie im Rahmen des internationalen Kampfes gegen den Menschenhandel.

Büste Pappenheims von Fritz Kormis © LBI NY | Berlin
Büste Pappenheims von Fritz Kormis © LBI NY | Berlin

Gibt es noch Lücken in der Forschung zu ihr?

In den letzten Jahren haben Forscher:innen wichtige Lücken gefüllt – etwa Abigail Gillmans Arbeit zu Pappenheims Übersetzung der Tsenerene („Frauenbibel“) und ihrer Freundschaft mit Martin Buber, Matthew Johnsons Studie zu ihrer Übersetzung der Memoiren der Glückel von Hameln sowie Untersuchungen zu ihrer Tätigkeit als Sammlerin (ihre bedeutende Spitzensammlung ist heute noch im Museum für angewandte Kunst in Wien zu sehen). Dennoch bleiben Lücken, etwa durch den Verlust von Dokumenten (mitunter literarischen Werken und Übersetzungen). Über ihre persönliche Haltung zur Psychoanalyse wissen wir zum Beispiel fast nichts. Eine noch zu schließende Forschungslücke wäre die Rekonstruktion der zeitgenössischen Rezeption ihrer Arbeit in nicht deutschsprachigen Medien – vor allem in jiddischer und polnischer Presse –, um zu verstehen, wie ihre Arbeit außerhalb Deutschlands wahrgenommen wurde, insbesondere von den Menschen, für die sie sich direkt einsetzte.

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe »Engagement & Demokratie in der jüdisch-deutschen Geschichte«.

Bertha Pappenheim © Leo Baeck Institute NY, Art Collection, 77.57.
Bertha Pappenheim © Leo Baeck Institute NY, Art Collection, 77.57.