Lina Morgenstern war eine der herausragendsten Sozialreformerinnen des 19. Jahrhunderts. Als Gründerin der ersten Volksküchen in Berlin setzte sie sich nicht nur für die Ernährung der Armen ein, sondern kämpfte auch vehement für die Rechte der Frauen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Schwächeren in der Gesellschaft. Sie organisierte Hilfe für Verwundete im Krieg, engagierte sich in der Friedensbewegung und verfasste mehr als 30 Bücher. In einer Zeit, in der Frauen wenig Einfluss auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen hatten, trat sie unbeirrt für das »Gute« im Leben ein und prägte eine ganze Generation von Reformern.
Gerhard J. Rekel ist ein österreichischer Autor und Filmemacher, geboren 1965 in Graz. Nach dem Studium an der Wiener Filmakademie und der Drehbuchwerkstatt München begann er 1990 als Drehbuchautor. Rekel verfasste zahlreiche Spielfilme und Dokumentationen, u. a. für »Tatort«, ARTE und ZDF. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, etwa beim European Archaeological Film Festival in Athen und in Besançon. Als Autor veröffentlichte er u. a. den Roman »Der Duft des Kaffees sowie »Monsieur Orient-Express«, die erste Biografie über Georges Nagelmackers, ausgezeichnet mit dem ITB BookAward 2023. Von 2006 bis 2015 war er Gastdozent an der Donau-Universität Krems. Zuletzt arbeitete er an der Biografie »Lina Morgenstern – Die Geschichte einer Rebellin«, in der er das Leben der Berliner Sozialreformerin nachzeichnet.
Im Interview spricht Gerhard J. Rekel über das außergewöhnliche Leben dieser Pionierin, deren Ideen bis heute beeindrucken.
Was hat Sie zur Beschäftigung mit Lina Morgenstern gebracht, sodass Sie schließlich ein Buch über sie geschrieben haben?
Spaziergänge. Mitten durch Berlin. An zahlreichen Häusern habe ich Denkmalschilder entdeckt, die an Lina Morgensterns Volksküchen erinnern. Und ich habe mich irgendwann gefragt: Wer war eigentlich diese Frau?
Und? Wer war sie?
Ein Phänomen. Ihr Gesamtwerk hat mich umgehauen! Lina Morgenstern hat nicht nur 17 Volksküchen gegründet, die täglich 10 000 Berliner:innen mit warmem Essen versorgt haben, nein, sie hat auch im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 an den Berliner Bahnhöfen spontan 300 000 Soldaten mit Essen versorgt und zwei Not-Lazarette organisiert, um 6000 Verwundete zu retten. Freund und Feind. Weil sich der Staat nicht darum kümmern wollte. In den Jahren danach gründete Morgenstern über 30 »Wohlfahrts-Startups«. Damit unterstützte sie alleinerziehende Frauen, mit dem Gesetz in Konflikt geratene Mädchen, vermeintliche Prostituierte und andere Hilfesuchende. In unzähligen Nächten schrieb sie »so nebenbei« 32 Bücher, einige davon entwickelten sich zu Bestsellern. Und sie kümmerte sich – zusammen mit ihrem jüdischen Ehemann – um ihre fünf Kinder.
Wie ist ihr das alles gelungen in einer Zeit, in der Frauen kaum Rechte hatten?
Das war für mich das große Rätsel: Wie hat es die aus einer jüdischen Familie stammende Frau geschafft, trotz heftiger Anfeindungen von Antisemiten und Männerklüngeln ein humanistisches Lebenswerk zu hinterlassen, wie sonst kaum jemand? Es gelang ihr sogar, zusammen mit anderen bürgerlichen Frauen, den 1. Internationalen Frauenkongress auf deutschem Boden im Roten Rathaus zu organisieren, den über 1700 Menschen aus der ganzen Welt besuchten und der politische Wellen schlug. Vor allem wollte ich herausfinden: Wie war es Morgenstern möglich, in einer Epoche, in der Frauen per Gesetz weder ein Geschäft noch ein Bankkonto eröffnen oder einen Verein gründen durften, so viele Unternehmen zum Erfolg zu führen? Was war ihre Methode, ihre Strategie, ihr Geheimnis? Ich begann zu recherchieren, bin in zehn Archiven auf Unterlagen gestoßen und habe innerhalb von zwei Jahren über 700 Quellen entdeckt, die in das Buch eingeflossen sind. Auf diese Weise konnte ich viele ihrer fantasievollen und raffinierten Vorgangsweisen ermitteln. Denn Lina Morgenstern hat nicht nur für ihr erfolgreiches »Universal-Kochbuch für Gesunde und Kranke« über 2700 Rezepte erfunden, sondern auch für zahlreiche gesellschaftliche Probleme. Viele dieser »Rezepte« sind aktueller denn je.

Woher kam Morgenstern? Was war das für eine Gesellschaft und was für ein Elternhaus?
Lina Morgensterns Mutter stammte aus einer Breslauer Senatorenfamilie, der Vater besaß ein Möbel- und Antiquitätengeschäft. Nach dem Wunsch der Eltern sollte Lina einen wohlhabenden, bürgerlichen Mann heiraten und sich ausschließlich um Haus, Herd und Kinder kümmern. Briefe belegen: Schon im Alter von sechzehn Jahren war Lina das zu wenig. Sie wollte verändern. Im Kleinen und im Großen. Und das tat sie dann auch!
Sie beschreiben in Ihrem Buch den Einfluss der Mutter Lina Morgensterns auf die Wohlfahrtsarbeit ihrer Tochter. Was war das für eine Frau?
Ihre Mutter kam aus dem gebildeten Bürgertum. Lina durfte die »Höhere Töchterschule« besuchen. Dort lernte sie Kochen, Handarbeiten und Grundkenntnisse des gesellschaftlichen Umgangs – doch die Privatschule bot weder ein Abitur noch berechtigte es zu einem Universitätsstudium. Lina war schon als Kind neugierig, las Bücher über Medizin und Astronomie sowie die Schriften von Rahel Varnhagen und Traktate von Bettina von Arnim – beide setzten sich für die politische Gleichstellung von Frauen und Juden ein. Für Lina aber gab es keine Aussicht auf ein Studium, denn Frauen hatten im 19. Jahrhundert generell keinen Zugang zu Universitäten. Mit Siebzehn verfiel sie in eine schwere Depression. Lina verachtete die Beschränkungen, die ihr Eltern und Gesellschaft auferlegten. Verzweifelt suchte sie nach Möglichkeiten, ihr Wissen zu erweitern. Der Gedanke quälte sie, diese Chance vielleicht niemals zu erhalten. Bis sie im Alter von Achtzehn ihren ersten Wohltätigkeitsverein gründete. Gegen den Willen ihrer Eltern.
Und wie war im Gegenzug ihr Vater?
Ihrem Vater ging es vor allem darum, seine aufgeweckte Tochter bei einem wohlhabenden Geschäftsmann unter die Haube zu bringen. Doch Lina verliebte sich in einen jungen, jüdischen Revolutionär. Der Vater war strikt gegen diese Beziehung. Lina aber kämpfte. Sieben Jahre lang. Für Theodor! Bis sie die Hochzeit schließlich durchsetzte. Mit Theodor lebte sie eine unkonventionelle, emanzipierte Ehe, deren Geheimnis sich die beiden bis zum Schluss bewahrten.
Morgenstern traf früh auf Abraham Geiger, einen wichtigen Rabbiner und Reformer. Wie war sein Einfluss auf Lina?
Die Eltern ließen Lina von jüdischen Gelehrten unterrichten. Besonders beeindruckte Lina ihr Religionslehrer Abraham Geiger, der zum selbstständigen Nachdenken über ethische Bestimmungen ermutigte. Geiger trat dafür ein, den Gottesdienst durch Musik und Chor sowie Beten in der Landessprache den Menschen näherzubringen. Er war einer der wichtigsten Wegbereiter des Reformjudentums und Linas Lieblingslehrer. Geiger hatte das Ehepaar Morgenstern auch getraut. Später schrieb Ludwig Geiger, der Sohn von Abraham, über Lina: »Beachtete sie auch keine rituellen Vorschriften, wirkte sie auch ausschließlich in allgemeinen, nicht jüdischen Vereinen, so verharrte sie als eine treue Tochter ihres angestammten Glaubens.«
Bereits mit 18 Jahren hat sie den Pfennigverein gegründet. Was war das für ein Verein und wie finanzierte er sich?
Zu Linas 18. Geburtstag veranstaltete der Vater ein Fest, doch Lina durfte ihren geliebten Theodor nicht einladen. Stattdessen bat der Vater wohlhabende Geschäftsfreunde und reiche Adelige zu Tisch. Widerspenstig riss Lina mitten auf dem Fest das Wort an sich und präsentierte ihre Idee eines Pfennigvereins: Jeder Anwesende sollte monatlich einen Pfennig für Schulmaterial und Kleidung für arme Arbeiterkinder spenden. Einige Gäste versuchten, sich elegant aus der Affäre zu ziehen: Wer garantiere, dass die Spenden die Richtigen erhalten? Sollten die Zuwendungen nur jüdische Kinder bekommen? Eloquent konnte Lina die Zweifel zerstreuen. Noch auf dem Fest begann sie Geld einzusammeln. Schließlich gelang es ihr, nahezu alle Gäste von einem »Spendenabo« zu überzeugen. Der Pfennigverein existierte dreißig Jahre lang, unterstützte 16 000 Kinder und war Linas erstes erfolgreiches Wohltätigkeits-Unternehmen.
Kindergärten wurden damals von der Regierung verboten. Warum war das so, und wie schaffte Morgenstern es dennoch, nicht nur einen, sondern gleich acht Kindergärten zu gründen?
Der konservative preußische Kultusminister Karl Otto von Raumer hatte seit dem 7. August 1851 Kindergärten in Preußen verboten. Der Grund: »Destruktive Tendenzen auf dem Gebiet der Religion und Politik!« Die preußische Regierung unterstellte den Fröbel’schen Erziehungsmethoden eine sozialistische Gesinnung. Leidenschaftlich hielt Lina dagegen. Über mehrere Jahre hinweg sprachen Lina, der Pädagoge Friedrich Lette und andere Befürworter Fröbels im Ministerium vor. Am Ende verhielt es sich wie mit jeder großen Wahrheit: Alle Personen, die sich ernsthaft mit Fröbels neuen Erziehungsmethoden auseinandersetzten, befürworteten sie. Schließlich hob die preußische Regierung 1860 das Verbot auf. Und Lina konnte mit ihren Kolleg*innen weitere Kindergärten eröffnen.
Welche Bedeutung hatte für Lina »Zedaka«?
Geschickt machte sich Lina »Zedaka« zunutze, denn durch die religiös motivierte Pflicht, »nicht Herz und Hand vor Armen zu verschließen«, gelang es ihr, zahlreiche jüdische Spender und freiwillige Helferinnen für ihre Vereine zu finden. Insbesondere für die Volksküchen! Dort halfen bürgerliche, zumeist jüdische Frauen beim Kochen und Essenverteilen, wodurch die 17 Volksküchen ohne staatliche Unterstützung auskamen. Obwohl Lina sich von »Zedaka« leiten ließ, beschränkte sich ihr Tun nie auf die jüdische Gemeinde. Sämtliche ihrer Aktivitäten kamen Menschen aller Religionen zugute.

Hat sich Lina Morgenstern auch politisch engagiert?
In jungen Jahren ging sie nach dem Motto vor: »In der Not muss sofort etwas getan werden, für politische Visionen bleibt immer noch Zeit.« In der Mitte ihres Lebens änderte sie diese Haltung, wollte mehr bewegen. Sie gründete eine erfolgreiche Wochenzeitung.
Sind Lina Morgenstern alle Unternehmungen gelungen?
Nein. Zweimal geriet sie in den Bankrott. Ihr Leben war ein turbulentes Auf und Ab zwischen Scheitern und Triumph, zwischen Spott und großer Anerkennung. Am Ende wurde sie mit Ehrungen in Europa und Amerika überhäuft. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Sozialreformerinnen und als maßgebliche Begründerin der ersten Frauen- und Friedensbewegung. Die hebräische Zeitung »HaZefira« überschüttete Lina am 13. Dezember 1900 anlässlich ihres 70. Geburtstags mit Lob und sprach von der »berühmtesten Frau in Berlin«. In der Hauptstadt wurde sie zu den fünf bedeutendsten Persönlichkeiten gewählt.
Gibt es Parallelen zu heute?
Zahlreiche Konflikte, mit denen Lina konfrontiert war, spiegeln aktuelle gesellschaftliche Spannungen: insbesondere die weiterhin bestehende Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, der Gegensatz zwischen Nationalisten und Kosmopoliten, die menschenverachtenden Auswirkungen des Antisemitismus, das Auseinanderdriften von Arm und Reich sowie der Kampf um das sogenannte »Gute«.
Anstatt sich als wohlhabende Frau zurückzulehnen und das schöne Leben zu genießen, setzte sich Lina mit aller Kraft für »das Gute« ein – das sie, ganz im Sinne Immanuel Kants, als einen Willen verstand, « der ausschließlich durch Gründe der praktischen Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen ».
Die Mehrheit ihrer Projekte entwickelte sich tatsächlich erfolgreich. Ihre Geschichte ist eine, die Mut macht.
Text: Lutz Vössing
Der Autor präsentiert das Buch:
- Am 24. Mai 2025, um 19:30 Uhr, im Theater im Palais, Am Festungsgraben 1 / Unter den Linden, 10117 Berlin-Mitte – gemeinsam mit der britischen Pianistin Julie Sassoon. Inklusive Lina Morgensterns Lieblingssuppe in der Pause.
- Am 28. Mai 2025, um 19:00 Uhr, in der Konditorei »Palladin«, Pallasstraße 8–9, 10781 Berlin – mit historischen Bildern und Lina Morgensterns Lieblingssuppe. Reservierungen hier.
- Am 3. Juni 2025, um 19:00 Uhr, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Archivstraße 12–14, 14195 Berlin – mit Archivmaterial. Eintritt frei. Reservierungen hier.
Dieser Beitrag ist Teil der der Reihe »Engagement & Demokratie in der jüdisch-deutschen Geschichte«.