Tony Sender – Politische Ausnahmeerscheinung

Toni Senders Fahrausweis in New York. BIld: Wiki.

Tony Sender kam am 29. November 1888 als Sidonie Zippora Sender in Biebrich bei Wiesbaden zur Welt und starb 1964 in New York. 13 Jahre gehörte sie dem linken Flügel der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an und arbeitete nach ihrer Emigration in die USA als Gewerkschafterin, reiste, hielt Vorträge und wirkte als Expertin für Wirtschaftspolitik. Trotz ihrer politischen Erfolge, ihres charismatischen Wesens und ihrer internationalen Vernetzung ist Tony Sender nur noch wenigen ein Begriff.

Die Historikerin und Politologin Dr. Christl Wickert promovierte über die erste Generation Frauen im Reichstag und im Preußischen Landtag der Weimarer Republik. Neben ihrer fortwährenden wissenschaftlichen Arbeit vor allem zum Themenkomplex Frauen im Nationalsozialismus realisiert sie Ausstellungsprojekte und Tagungen und wirkt zudem in der Erwachsenenbildung. Im Oktober 2022 wurde auf ihre Initiative am letzten Wohnort Tony Senders in Berlin eine Gedenktafel errichtet.

Lutz Vössing sprach mit Christl Wickert über die beeindruckende Politikerin im Kampf gegen gesellschaftliches Unrecht.

Wie wurden Sie auf Tony Sender aufmerksam?

Bei den Recherchen zu meiner Doktorarbeit über die SPD-Frauen im Reichstag fiel mir im Stadtarchiv Frankfurt am Main ein Foto von Tony Sender im Wahlkampf 1924 auf, das man heute wiederholt im Internet findet. Sie trug ein Charleston Kleid und stand offensichtlich nach ihrer Rede neben dem Pult.

Und das hat Sie vermutlich beeindruckt!

Das Bild passte so gar nicht in meine Vorstellung einer Reichstagsabgeordneten. Das musste eine lebenslustige, sehr moderne und weltoffene Frau sein. Das interessierte mich. Im Archiv der Havard Universität, der Houghton Library, fand ich dann ihre 1940 verfassten Lebenserinnerungen, die 1981 unter dem Titel »Autobiographie einer deutschen Rebellin« erschienen.

Eine Ausgabe von Toni Senders Autobiographie auf einer Bank in New Jersey. Bild: Holden Lubin.
Eine Ausgabe von Toni Senders Autobiographie unweit ihres Sterbeortes in New York. Bild: Holden Lubin.

Sie kam aus einer orthodox-jüdischen Familie. Was weiß man über ihre Familie?

Der Vater war Vorsitzender der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Wiesbaden-Biebrich. Die drei Töchter sollten als fromme Jüdinnen gleichgesinnte Männer heiraten.

Sie brach dann aber gegen den Willen ihrer Eltern die jüdische Töchterschule ab, um in Frankfurt am Main die Handelsschule zu besuchen. Was bedeutete das damals?

Ohne Unterhalt versuchte sie ihr Glück in der Großstadt und verdiente sehr schnell ihr eigenes Geld als Aushilfe im kaufmännischen Bereich. Sie beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie nach dem täglichen Schulbesuch und ihrer Erwerbsarbeit für die Prüfung lernen musste. Im Sommer war dies auf einer Bank im Palmengarten, wo sie das Lernen mit der Erholung an der frischen Luft verband. Den Kontakt zur Familie brach sie ab. Ich bewunderte schon an dieser Stelle meiner Lektüre, welche Energie sie an den Tag gelegt hat, um ihr Ziel einer beruflichen und persönlichen Selbständigkeit zu erreichen. In der Kaiserzeit war das außergewöhnlich.

Was waren ihre ersten politischen Schritte?

Tony Sender wurde Gewerkschaftsmitglied und trat 1910, als Frauen die Mitgliedschaft in politischen Parteien erlaubt wurde, der SPD bei. Sie wollte Nationalökonomie studieren; die dafür erforderliche Zustimmung verweigerte der Vater. Sie fand dann durch ihre Anstellung bei der Frankfurter Firma »Beer, Sondheimer und Co.« Arbeit als Fremdsprachensekretärin in Paris. Politisch fand sie schnell Anschluss bei den französischen Sozialisten und arbeitete mit dem Pazifisten Jean Jaures zusammen. Mit Kriegsausbruch 1914 wurde sie ausgewiesen und fand in Frankfurt in Robert Dißmann ihren Lebensgefährten und politischen Mitstreiter.

Wie war ihre Beziehung zueinander?

Die beiden traten in ganz Süddeutschland auf Veranstaltungen für eine europäische Friedenspolitik auf. 1917 zählten sie gemeinsam zu den Begründern der USPD, in der sich die Gegner der Kriegskreditbewilligung von 1914 zusammen fanden. 1922 gehörten beide nach dem Zerfall der USPD zur Linken in der SPD.

Sender am SPD-Pult.

Wie war ihre Rolle in der Novemberrevolution?

Tony Sender wurde 1918 als einzige Frau Mitglied im Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrat; sie gehört damit zu den ganz wenigen Frauen in der Rätebewegung, die sich für ein republikanisches Deutschland und vor allem für die Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrecht und damit auch das Frauenwahlrecht einsetzten, das die SPD seit 1892 gefordert hatte.

Während ihrer Arbeit im Reichstag brachte sie ja vor allem frauenpolitische Themen zur Diskussion. Welche waren das noch?

Für die erste Generation Parlamentarierinnen war es schwer, ihre Interessen für Frauenrechte nach der Verfassung durchzusetzen. Ihre Themen waren die Etablierung des Mutterschutzes, Arbeitsschutz, Zugang für Mädchen und Frauen zu allen Schulen und Universitäten, die Abschaffung des Verbots der Abtreibung, Fürsorge für ledige Mütter und ihre Kinder, Sexual- und Verhütungsaufklärung, die wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern. Nebenbei studierte sie endlich Nationalökonomie und war in der 2. Hälfte der 1920er Jahre wirtschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Von 1919 bis 1933 engagierte sie sich auch als Redakteurin der Betriebsrätezeitung des Metallarbeiterverbandes. 1927 übernahm Sender zusätzlich die Redaktionsleitung der sozialdemokratischen Zeitschrift »Frauenwelt«, in der sie mehr als 400 eigene Beiträge veröffentlichte. Der Abstimmung zur Bewilligung des Baus des Panzerschiffs A und des Panzerkreuzers B am 20. März 1931 blieb Sender zusammen mit sechs anderen SPD-Abgeordneten demonstrativ fern.

Tony Sender im Gespräch mit Paul Löbe im Wandelgang des Reichstags. Foto: Erich Salomon
Tony Sender im Gespräch mit Paul Löbe im Wandelgang des Reichstags. Foto: Erich Salomon

Was konnte sie dabei erreichen?

Auf Initiative der Frauen in der SPD und der USPD verabschiedete der Reichstag 1920 ein erstes Mutterschutzgesetz. Nach und nach wurden Frauen zu zahlreichen neuen Berufen zugelassen, nur im Fall einer Heirat wurden z.B. Postbeamtinnen und Lehrerinnen entlassen. Aus heutiger Sicht waren wenige Erfolge zu verzeichnen, aber die Probleme wurden benannt.

Was weiß man über sie als Sprecherin?

Tony Sender soll insbesondere in wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen sehr überzeugend gesprochen haben. Vertreter der konservativen Parteien brachten beschränkten die Rezeption ihrer Auftritte und Aussagen auf ihr Äußeres, ein Problem, das Frauen heute noch haben. Da sie in den Pausen gerne zum Tanzen in das nahe liegende Ausflugslokal »In den Zelten« ging, trug sie nicht selten entsprechend auffällige Kleider.

Toni Sender im Hemd mit Krawatte. Foto: Wiki.
Toni Sender im Hemd mit Krawatte. Foto: Wiki.

Der Kampf gegen den Nationalsozialismus ist ein wichtiger Punkt in ihrem Leben. Wie war sie organisiert?

Als 1928 59 NSDAP-Mitglieder in den Reichstag einzogen, begannen Verbalattacken gegen Mitglieder des Parlamentes, die jüdischer Herkunft waren, auch wenn sie sich selbst nicht mehr der Gemeinde zugehörig verstanden. Unter den 153 Abgeordneten des Wahlgewinners SPD wurden besonders Frauen jüdischer Herkunft Ziel von Kampagnen, die durch die Propaganda der antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ begleitet wurden. Tony Sender versuchte als Rednerin und in ihren Sprechstunden in ihrem Wahlkreis aufzuklären. Nach offenen Morddrohungen floh sie am 5. März 1933 aus Deutschland.

Wie verlief ihre Flucht?

In Prag, wo sich auch der Exilvorstand der SPD (Sopade (Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil) von 1933 bis zum Frühjahr 1938 befand, arbeitete Tony Sender als Redakteurin des „Neuen Vorwärts“, der hier seit Juni 1933 erschien. Sie war auch für Flugblätter verantwortlich, die in ihrem ehemaligen sächsischen Wahlkreis verteilt wurden. Im Herbst warb der belgische Sozialist Camille Huysmans (1871-1961) Sender als Mitarbeiterin der seit 1914 erscheinenden „De Volksgazet” in Antwerpen. Hier pflegte sie die Zusammenarbeit mit der Exilgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Im März 1934 erfolgte die Ausbürgerung. 1935 blieb Tony Sender nach einer dreimonatigen Vortragsreise zur Lager der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland auf Einladung der AFL (American Federation of Labor) in den USA, deren Staatsbürgerschaft sie 1943 erhielt.

Ihr Engagement war sehr vielschichtig und sie selbst sogar bis in die USA vernetzt. Wie kam es dazu? Was waren ihre Ziele?

Tony Sender verstand sich als Frau in der international orientierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. In diesem Sinne war die Frauenfrage Teil des politischen Kampfes gegen Ungerechtigkeit, bessere Arbeitsverhältnisse und Menschenrechte. So hatte sie zusammen mit ihrem Partner Robert Dißmann Kontakte zur Gewerkschaftsbewegung in den USA und trat auf Gewerkschaftskongressen auf. Nachdem ihr Lebensgefährte auf einer Reise 1926 verstorben war, konzentrierte sie ihre Bemühungen auf Deutschland und Europa.

Wie verlief ihr Leben in den USA? Konnte sie ihre Arbeit fortführen?

Ihre Bekanntheit in den USA führte dazu, dass sie bei der AFL (American Federation of Labor) und über New Yorker Emigrantengruppen auf Vortragsreisen über Deutschland und Vorschläge zu einer Neuordnung nach der Niederlage des NS sprach. Tony Sender und andere sozialdemokratische Exilantinnen, wie Käthe Frankenthal und Hedwig Wachenheim, waren ab 1941 für den Nachrichtendienst des US-Kriegsministeriums „Office for Strategic Services“ tätig. Sie schrieben Expertisen zum Stand ihrer jeweiligen Politikfelder und entwickelten Empfehlungen für ein Deutschland nach der Niederlage Hitlers. Tony Senders Schwerpunkt waren Pläne für den Wiederaufbau der Gewerkschaften. Im Vorfeld der Gründung der Vereinten Nationen war sie als Gewerkschaftsvertreterin und US-Bürgerin Wirtschaftsspezialistin bei der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), später als Repräsentantin der AFL bzw. des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat. In der UN-Menschenrechtskommission und der Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau kann sie als eine der Vorreiterinnen für das UN-Jahr der Frau 1975 bezeichnet werden. Mitte der 1950er Jahre musste sie ihr berufliches Engagement aufgeben, da sie an Parkinson erkrankt war. Zum Lebensende suchte sie wieder die Nähe zur Jüdischen Gemeinde. Sie starb 1964.

Gedenktafel für Toni Sender in  der Wittelsbacherstraße 34, Berlin-Wilmersdorf. Foto: Wiki.
Gedenktafel für Toni Sender in der Wittelsbacherstraße 34, Berlin-Wilmersdorf. Foto: Wiki.

Text: Lutz Vössing

Dieser Beitrag ist Teil der der Reihe »Engagement & Demokratie in der jüdisch-deutschen Geschichte«.