Moritz Lazarus – Leitphilosoph des liberalen Judentums

Moritz Lazarus. Bild: LBI

Moritz Lazarus gilt als wichtiger Intellektueller des 19. Jahrhunderts. Seine liberalen Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft auszusehen habe, gaben der Freiheit des Individuums viel Raum. Eine Nation war um so stärker und einiger, je besser sich die in ihr lebenden Menschen entfalten können. Christen, Dänen, Polen, Juden leben miteinander, und alle profitieren davon. Deutsche Jüdinnen und Juden genossen zu Beginn seines Wirkens mehr gesellschaftliche Anerkennung und Rechte denn je. Der Ursprung des Antisemitismus, der später in die große Katastrophe führen sollte, ist jedoch ebenfalls in dieser Zeit zu verorten. Darüber und, wieso seine Ideen heute wieder so aktuell und wertvoll sind, sprachen wir mit Mathias Berek.

Dr. habil. Mathias Berek ist Kulturwissenschaftler am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. 2008 promovierte er an der Universität Leipzig zu kollektivem Gedächtnis und gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion. Er leitete ein DFG-Projekt zur Wirkungsgeschichte von Moritz Lazarus an der Universität Leipzig und dem Minerva Institute for German History der Universität Tel Aviv, dessen Ergebnisse in eine 2019 im Wallstein-Verlag erschienene Monographie mündeten. Am Zentrum für Antisemitismusforschung  arbeitete er zudem an einem europäischen Projekt zu Antisemitismus und Immigration. Mathias Berek ist Teil der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts.

Eine Gesellschaft, an der alle partizipieren können. Darüber sprach Lutz Vössing mit Mathias Berek

Herr Berek, wer war Moritz Lazarus?

Moritz Lazarus war einer jener nationalliberalen deutschen Juden, die sich an den Bestrebungen beteiligten, eine deutsche Nation unter preußischer Führung zu gründen. Das fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Dies war die Zeit, in der Lazarus seine Erfolge als Autor, Redner, Professor, Organisator und Geschäftsmann feierte.

Was war das für eine Zeit?

Es war die Zeit, in der die Emanzipation des Judentums in Europa Früchte trug, in der Juden und Jüdinnen immer mehr zu normalen Mitgliedern der Gesellschaft werden durften. Es war die Ära des jüdischen sozialen Aufstiegs, in der es immer weniger Beschränkungen und Verfolgungen gab, was sich ja letztlich auch in der Verfassung des deutschen Bundes 1869 und der Reichsverfassung von 1871 niederschlug. Politisch war es auch die hohe Zeit des Nationalliberalismus, einer an männlichen Honoratioren orientierten, aber mit Einschränkungen dennoch demokratischen Strömung. Sie prägte die Reichsgründung, und bis zur konservativen Wende Ende der 1870er Jahre regierte Bismarck mit den Nationalliberalen.

Das klingt nach einer recht progressiven Stimmung. Wie erging es Lazarus?

Die Emanzipation war zweifellos nicht umfassend, was auch Lazarus zu spüren bekam. Sowohl vor als auch nach der Reichsgründung blieb ihm in Preußen oder irgendeinem anderen deutschen Land eine ordentliche Professur verwehrt. Nur die Schweiz bot ihm diese Stellung. Auch seine Professur an der Preußischen Kriegsakademie verlor er Anfang der 1870er Jahre wieder, weil der neue Direktor Judenhasser war. Und dennoch war Lazarus gut integriert in die gehobene Gesellschaft seiner Zeit. Um nur ein paar Beispiele dafür zu nennen: Er unterrichtete preußische Offiziere in Philosophie. Er saß unzähligen jüdischen wie nichtjüdischen wohltätigen und kulturellen Institutionen vor. Seine Bücher und seine Karriere waren regelmäßig Thema in den Feuilletons der großen Tageszeitungen. Er hatte eine Professur in Bern und wurde dort sogar Rektor. Er lehrte als außerordentlicher Professor in Berlin. Er war mit bekannten Schriftstellern wie Berthold Auerbach und Paul Heyse befreundet. Er war aktives Mitglied in Literaturzirkeln wie dem Rütli, gemeinsam etwa mit Theodor Fontane. Im deutsch-französischen Krieg half er über seine Kontakte zu Schweizer und französischen Politikern sogar dabei, diesen aus der Kriegsgefangenschaft zu befreien.

Wer waren seine Vordenker, von wem lernte er?

Lazarus’ Denken war geprägt von der griechisch-römischen Antike und der jüdischen Tradition, von Leibniz und der Aufklärung, von Kant, Spinoza und Mill, von Psychologen wie Beneke und Herbart, von Sprachwissenschaftlern wie Wilhelm von Humboldt und Heyse. Er interessierte sich zudem für Geschichte und Biologie. Zu seinen direkten Lehrern an der Berliner Universität gehörten Heyse, Trendelenburg, Beneke, Ranke und Wilhelm Grimm. Eine Besonderheit für einen Gelehrten seiner Zeit war, dass er auch Impulse aus der nichtakademischen Welt aufnahm. So machte er eine Beobachtung des populären Schriftstellers Aaron Bernstein zum Aufhänger seines Artikels über Gespräche.

Wer waren seine Bewunderer? Auf wen hatte er Einfluss?

Zu den Bewunderern zählten ohne Zweifel seine zweite Frau, die Schriftstellerin Nahida Lazarus (vorher Remy) und seine ehemaligen Schüler Alfred Leicht und Aron Tänzer. Aber auch jenseits des direkten persönlichen Kontakts übte sein Denken Einfluss in ganz verschiedene Richtungen aus. Seine Ideen über die Zugehörigkeit zu einem Großkollektiv wie der Nation etwa waren ihrer Zeit in einigem voraus.

Moritz Lazarus und Nahida Ruth Lazarus-Remy ca. 1895. Foto: Wiki.
Moritz Lazarus und Nahida Ruth Lazarus-Remy ca. 1895. Foto: Wiki.

Können Sie das näher ausführen?

Lazarus definierte ein Volk nicht über Sprache, Herkunft oder gar Rasse (das hielt er für gefährlichen und barbarischen Unsinn), sondern über gemeinsame Geschichte, Moral und vor allem die freie Selbstzurechnung. Wer sich zu einem Volk zählt, der gehört dazu. Ein Volk war für ihn kein statisches oder natürliches Gebilde, sondern ein permanenter Prozess des sich selbst Schaffens. Das war nicht nur wissenschaftlich hochmodern, gewissermaßen proto-konstruktivistisch, sondern auch für politische Bewegungen wie den Zionismus interessant.Vor allem für die liberale Mehrheit des deutschen Judentums war Lazarus deshalb eine Art Leitphilosoph. Seine Theorie der Zugehörigkeit durch Mitwirkung und Selbst-Zurechnung beschrieb die deutsch-jüdische Identität exakt. Sein direkter wissenschaftlicher Einfluss lässt sich an seiner Lehre an den Universitäten Bern und Berlin deutlich machen. Zu seinen Schülern gehörten Georg Simmel, einer der Mitbegründer der Soziologie, Franz Boas, der Gründer der amerikanischen Cultural Anthropology, oder der Kulturphilosoph Ludwig Stein. Auch ein Freund aus jüngeren Jahren, der Philosoph Wilhelm Dilthey, war von den Diskussionen mit Lazarus und seinem Werk inspiriert.

Lazarus wird als Populärphilosoph bezeichnet. Was meint das?

Lazarus war ein talentierter Redner. Das meint nicht nur das Seminar und die Vorlesung an der Universität, sondern auch Vorträge vor bildungsbürgerlichem Publikum in Festsälen wie der Berliner Sing-Akademie oder dem Großrats-Saal in Bern. Aber das Populäre ging weit über diese Fähigkeit hinaus. Zum einen interessierte Lazarus sich nicht nur für abstrakte Fragen wie die nach Geist und Sprache oder nach dem Zusammenhang von Einzelnem und Gesamtheit. Ihn interessierten immer auch Phänomene der Alltagswelt: Freundschaft, Musik, Humor, Wochenmarkt, Spiel, Ehre, oder alles, was unter den Begriff der Sitten fällt. Zum anderen war es ihm ein Anliegen, die gebildete Öffentlichkeit zu erreichen. An diese richtete er seine unzähligen Vorträge, aber auch seine Artikel in eher populären Zeitschriften wie in Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften. Er wollte immer über die Akademie hinaus wirken und Wissen damit gewissermaßen demokratisieren. Zeitgenossen sagten über ihn, er habe Philosophie und Psychologie popularisiert.

Ein Begriff, den man mit Lazarus verbindet, ist die Völkerspsychologie. Was beschreibt sie?

Völkerpsychologie war ein gemeinsames Projekt von Lazarus und seinem engsten Freund, Heymann Steinthal. Es hat nichts zu tun mit dem, was wir unter dem deutschen Begriff »völkisch« verstehen. Ganz im Gegenteil. Es war der Versuch, eine neue Wissenschaft zwischen Idealismus und Realismus, zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu etablieren. Heute würden wir es eher Sozialpsychologie oder Kulturwissenschaft nennen. Der modernere Teil des Projekts drehte sich um sozialtheoretische Grundlagen. Das war es auch, was über Schüler von Lazarus und Steinthal die späteren Disziplinen Soziologie, Kulturanthropologie und Sozialpsychologie beeinflusste. Dazu zählen Lazarus’ theoretische völkerpsychologischen Arbeiten, zum Beispiel über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit. Die Völkerpsychologie hatte aber noch einen anderen Teil, der seinerzeit auch populärer war: eine Art Völkercharakterologie. Es ging um vermeintliche Eigenheiten historischer und zeitgenössischer Kollektive und Kulturen. Und in diesem Teil des Projekts finden sich auch einige eurozentrische und essentialisierende Ansichten. Nur dieser zweite Teil lässt sich überhaupt in Verbindung zum Begriff »Volk« bringen, der seit den völkischen Bewegungen grundsätzlich negativ besetzt ist. Für Lazarus und Steinthal und ihre Zeitgenossen meinte »Volk« aber nichts weiter als Kollektiv, Nation oder Gesellschaft.

Bei der Beschäftigung mit Lazarus stößt man unweigerlich auf seinen Begriff des Volksgeist. Was ist so besonders an ihm?

Das Besondere an Lazarus’ Begriff des »Volksgeists« oder »objektiven Geistes« ist, dass er ihn dynamisch, also als Prozess verstand. Er meinte ihn nicht hegelianisch als eine Art Wesen, das die Geschichte durchwandert, und auch nicht als quasi-natürlichen, unveränderlichen Wesenskern eines als Lebewesen verstandenen Kollektivs. Das Konzept des »objektiven Geistes« war eine Vorwegnahme dessen, was wir heute unter Kultur im weiteren Sinne verstehen: von Menschen geschaffene Dinge, Institutionen, Rituale und Sinnwelten – von der Statue über den Wochenmarkt bis zu Erzählungen und Musik. Objektiv ist dieser Geist, weil er objektiviert ist, also vom Subjekt abgelöst, mit anderen Subjekten austauschbar, von diesen verstehbar. Lazarus hatte damit einen Begriff für jene Welt gefunden, die von Menschen gemacht ist und Menschen zu Menschen macht.

Wie übertrug sich seine Idee des Volksgeistes auf seine politischen Ideen?

Wenn dieser Volksgeist, also die Kultur eines Kollektivs, nicht gottgegeben oder natürlich, sondern historisch entstanden und von Menschen gemacht ist, dann ist sie auch veränderbar. Das heißt zum einen, dass ihre Mitglieder permanent verhandeln, was sie an ihr verbessern können. Zum anderen bedeutet es aber, dass alle, die daran mitwirken, zum Mitglied werden. Es bestimmen also nicht Herkunft, Religion, Sprache oder Hautfarbe, wer Teil des Kollektivs ist, sondern die Mitwirkung entscheidet. Das war auch die tiefste Überzeugung von Lazarus in Bezug auf die deutsche Gesellschaft. Und so verstand er seine eigene Position und Rolle. Wie die meisten seiner deutsch-jüdischen Zeitgenoss*innen betrachtete er sich gleichermaßen als Deutschen und als Juden. Er hielt es für absurd, diese beiden Kategorien gegeneinander auszuspielen. Und in der Tat war das deutsche Kaiserreich eine Gesellschaft, die auch von ihren jüdischen Teilnehmer:innen mit aufgebaut und getragen wurde. Das wurde erst nachträglich aus der Geschichte herausgeschrieben. Mit diesem Ausschluss durch die Antisemiten haben wir heute noch zu kämpfen, er zeigt sich jedes Mal, wenn einer daherkommt und von »den Deutschen und den Juden« in Kaiserreich oder Weimarer Republik spricht.

Man konnte nun im Bezug auf den Staat zugleich jüdisch und deutsch sein. Wie war aber der Bezug vom Individuum zur Gesellschaft?

Es gab noch eine andere politische Idee, in der sich das Konzept des objektiven Geistes niederschlug: Individuum und Kollektiv stehen in existenzieller Wechselwirkung über das Medium des objektiven Geistes. Es geht Lazarus weder darum, dass sich das Individuum dem »Wir« unterzuordnen habe, noch vertritt er die Ansicht, dass alle Individuen als Einzelne, als Monaden aus sich heraus existieren und hier und da Verträge und Beziehungen mit anderen Monaden eingehen würden, es also gar kein »Wir« gebe. Lazarus zufolge wird die höchste Form der Kollektivität erreicht, wenn zugleich die Individualität am stärksten ausgeprägt ist. Aber eben Individuen, die permanent und existenziell mit anderen verbunden sind.

Er sprach ja ausdrücklich von Gesellschaft – und nicht von Gemeinschaft. Das klingt aus heutiger Sicht sehr progressiv. War es das historisch gesehen überhaupt?

Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft kam erst später auf. Das einflussreiche Werk des Soziologen Ferdinand Tönnies darüber, unter dem gleichen Titel: »Gemeinschaft und Gesellschaft«, erschien 1887 Den ersten völkerpsychologischen Text hatte Lazarus schon 1851 veröffentlicht. Diese Gegenüberstellung war also damals nicht der zentrale Gegenstand der Debatte. Aber vielleicht war genau das aus heutiger Sicht das Progressive. Schauen wir aus der Gegenwart auf Tönnies’ Idee zurück, Gemeinschaft und Gesellschaft als unvereinbar gegeneinander zu stellen und die Gemeinschaft zur Norm zu erklären, sehen wir erst einmal den Nationalsozialismus. Dort wurde diese Unterscheidung in die Realität umgesetzt. Mit diesem Wissen der Gegenwart erscheint es wirklich fast als progressiv, wenn sich einer für diese Dichotomie überhaupt nicht interessiert. Was Lazarus interessierte, war ein anderes Verständnis von Zusammenleben, ob man es nun Gesellschaft, Gemeinschaft, Nation oder Volk nennt. Ihn interessierte eine Gesamtheit, an der alle, in all ihrer Verschiedenheit, partizipieren können, in der sie ihre jeweilige Individualität entfalten können und sich dabei gemeinsam weiterentwickeln.

Moritz Lazarus. Foto: LBI.
Moritz Lazarus. Foto: LBI.

Gab es auch Schwächen in seinem liberalen Denken?

Natürlich. Zum Beispiel blieb er trotz seines Einsatzes für die Erwerbstätigkeit von Frauen in einigen Berufen traditionellen Geschlechter-Vorstellungen verhaftet. Er war der Meinung, Frauen seien gemütvoller und für fürsorgende besser als für geistige und politische Arbeit geeignet. Und obwohl er selbst aus armen Verhältnissen stammte und sich stets karitativ engagierte, spielten Ausgrenzung durch Armut und Klassenzugehörigkeit keine Rolle in seinem Denken. Sein Liberalismus war letztlich einer von männlichen, gebildeten und materiell abgesicherten Bürgern.

Was war seine Vorstellung von Religion? Inwiefern war diese identitätsstiftend und wie vertrug sie sich mit der Gesellschaft?

Das Konzept der Identität spielte für Lazarus keine Rolle, Religion dagegen eine große. Trotz aller Beschäftigung mit ganz anderen philosophischen Systemen blieb er stets gläubiger und bekennender Jude. Er war ein engagierter Vertreter des liberalen Judentums. Er saß den Reformsynoden 1869 und 1871 vor. Er war teilweise Mitgründer und bekleidete führende Stellungen in jüdischen Organisationen wie der Alliance Israèlite Universelle, dem Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, der Berliner Gemeinde oder der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er war durchaus eine der herausragenden Persönlichkeiten des liberalen deutschen Judentums seiner Zeit. Seine Religion war aber auch inhaltlich wichtig für seine Arbeit. Es war ein selbstverständlicher Teil seiner Vorstellung von Gesellschaft, dass verschiedene Glaubensbekenntnisse darin Existenz- und Gleichberechtigung hatten. Er hatte dabei vor allem die deutsche Situation seiner Zeit vor Augen. Aber: Dass zu Pluralität und Religionsfreiheit auch die Freiheit von Religion gehören könnte, war für ihn kein Thema. Religion hielt er für einen zentralen und selbstverständlichen Teil von Gesellschaft. Letztlich steckte darin eine Schwäche, die der Antisemit Treitschke ausnutzen konnte: Indem Lazarus der Religion einen so dominanten Platz in der Gesellschaft zugestand, war der Weg für das Argument frei, dass die Mehrheitsreligion dann auch die Herrschaft über die gesamte Gesellschaft beanspruchen kann.

Sie hatten die konservative Wende bereits angesprochen. Die Situation sollte sich entschieden verschlechtern…

Die politische Situation änderte sich Ende der 1870er Jahre. Die Ära des Liberalismus endete. Das Reich wurde konservativer, mit den Sozialistengesetzen unterdrückte Bismarck die Sozialdemokratie und die Liberalen spalteten sich in linke und rechte Strömungen.

Wie war das für die Jüdinnen und Juden?

Auch für das Judentum brachte diese Wende eine entscheidende Zäsur: Auf die zunehmende bürgerliche Emanzipation von Jüdinnen und Juden reagierten christliche Judenhasser mit einer neuen Weltanschauung, dem Antisemitismus. 1879 veröffentlichte Heinrich von Treitschke seinen unseligen Artikel gegen die Juden, kurz zuvor hatte Wilhelm Marr den Begriff des Antisemitismus überhaupt erst in die Welt gebracht, und Adolf Stoecker predigte ihn am preußischen Hof. Antisemitische Parteien und Bewegungen hatten Zulauf und starteten sogar eine Petition, die Gleichberechtigung der Juden und Jüdinnen wieder zurückzunehmen. Gerade an den Universitäten breitete sich der moderne Judenhass stetig aus. Die Grundlage für die Verfolgung, die Gewalt, die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts wurden gelegt.

Wann etablierte sich die Vorstellung einer deutschen Gesellschaft, in der Juden und Deutsche als unüberbrückbar getrennt betrachtet wurden?

Es war ja nie weg. Auch wenn ich sage, dass das Kaiserreich ein christliches wie ein jüdisches Projekt war, gab es immer viele christliche Deutsche, die sich nicht damit abfanden, dass Juden und Jüdinnen dazugehören sollten. Man kann das durchaus mit heute vergleichen: Die heutige Bundesrepublik wurde von Millionen Immigrant*innen und deren Nachkommen mit aufgebaut. Sie sind ebenso deutsch wie die Nachkommen der Nazi-Deutschen und der wenigen überlebenden Nichtnazis. Und trotzdem gibt es immer noch und leider wieder zunehmend Deutsche, die darüber bestimmen wollen, wer angeblich nicht dazugehört. Die waren auch im 19. Jahrhundert stets präsent. Aber mit der konservativen Wende des Kaiserreichs fanden sie zunehmend Vertretung, Verbreitung und Öffentlichkeit. Sie wurden in ihrem Judenhass wieder selbstbewusst.

Wie hat sich das auf das Bild von Lazarus ausgewirkt?

Spätestens seit den 1880er Jahren wurde Lazarus öffentlich immer öfter als Jude thematisiert oder mit anti-jüdischen Stereotypen abgewertet. Selbst die Völkerpsychologie wurde teilweise als jüdische Wissenschaft behandelt. Das war letztlich ein Teil des Prozesses, in dem die deutschen Judenhasser ihren Wahn umsetzten, die durchaus diverse deutsche Gesellschaft zu homogenisieren und die Juden als nicht-deutsch zu definieren. Selbst manche liberalen Gegner des Antisemitismus forderten von jüdischen Deutschen zu konvertieren, um »richtige« Deutsche zu werden.

Wann begann Lazarus‘ Arbeit gegen den Antisemitismus?

Lazarus war einer der ersten, der sich gegen Treitschke öffentlich positionierte. Bereits kurz nach Erscheinen des berüchtigten Artikels »Unsere Aussichten« im Dezember 1879 rief er Berliner Juden auf, sich an der Gründung eines Komitees zu beteiligen. Seine Rede auf dem Treffen erschien Anfang 1880 als Broschüre. Seitdem war die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ein steter Teil seiner Arbeit. Sie kann auch als einer der Auslöser für die intensivere Beschäftigung mit der »Ethik des Judentums« betrachtet werden, seinem Alterswerk.

Wann wurde ihm klar, dass seine Ideen nicht zu verwirklichen waren?

1881 hatte er trotz aller Erschütterung über den neu erstarkenden Judenhass noch Hoffnung, dass hinreichend viele Deutsche bei der »Fahne idealer Gesinnung und Gesittung« ausharren mögen, und dass weitere Kreise wieder zur »ureigenen Hoheit und Reinheit des deutschen Volksgeistes« zurückfinden würden. Das schrieb er im Vorwort einer Neuauflage seines Buches »Das Lebens der Seele«. Ideal, Gesittung und Hoheit – diese Stichworte machen klar, was für idealistische Eigenschaften Lazarus mit der deutschen Nation verband. Deutschland war ihn ein Unternehmen im Sinne Kants, Schillers, Herders und Humboldts. Am Ende des Jahrhunderts aber hatte er auch diese Resthoffnung auf ein zivilisiertes Deutschland verloren. Im Vorwort der Neuauflage von 1896 schrieb er: »Meine Zuversicht hat sich nicht bewährt. – Ich schweige.« Den ersten Band der jüdischen Ethik veröffentlichte er noch, 1903 starb er.

Moritz Lazarus' Lebenserinnerungen. Bearbeitert von Nahida Lazarus und Alfred Leicht. Photo: Wiki.
Moritz Lazarus‘ Lebenserinnerungen. Bearbeitert von Nahida Lazarus und Alfred Leicht. Photo: Wiki.

Was haben uns die Ideen von Lazarus noch heute zu sagen?

In meinen Augen können wir mindestens drei wertvolle intellektuelle Erbschaften von ihm übernehmen. Erstens: Gesellschaft wird immer von Menschen gemacht und kann deshalb stets geändert werden. Zweitens: Menschen können nur in Gesellschaft mit anderen zu Menschen werden. Beides zusammen ergibt ein faszinierendes Bild der gegenseitigen Abhängigkeit und Wechselwirkung von Individuen und Kollektiven: Menschen können starken Zusammenhalt und solidarische Gemeinsamkeit schaffen, und zwar nicht trotz Individualität oder gegen sie, sondern genau durch sie und wegen ihr. Individualität und Gemeinschaft schließen sich nicht aus. Ich würde sogar in Frage stellen, jene gewaltsamen Kollektive wirklich Gemeinschaften zu nennen, in der sich vereinsamte und verängstigte Menschen unter autoritären Führern zusammentreiben lassen. Denn viel Gemeinsames haben sie nicht, abgesehen vom Hass auf die, welche sie als die ‚Anderen‘ definieren. Jenseits davon bleiben die Insassen einsam und unverbunden, ja voller Angst voreinander.

Deshalb finde ich die dritte Einsicht Lazarus’ so wichtig: moderne Gesellschaften beruhen immer und überall auf Vielfalt, oder, wie es damals hieß: Mannigfaltigkeit. Sie zu homogenisieren heißt, eine existierende Vielfalt zu beseitigen. Es läuft stets darauf hinaus, wahnhafte Reinheitsideen wie Rassismus oder Antisemitismus an eigentlich vielfältige Gesellschaften heranzutragen. Und jede solche Homogenisierung ist eben nicht natürlich vorhanden, sondern lässt sich nur mit massiver Gewalt herstellen. Ganz abgesehen davon, dass sich somit Teilgruppen der Gesellschaft einen Alleinvertretungsanspruch für die gesamte Gesellschaft anmaßen. Sich konsequent gegen diesen Reinheitswahn zu stellen, ist wohl eine der wichtigsten Lehren aus dem 19. Jahrhundert und aus Ideenwelten wie der von Lazarus.

Text: Lutz Vössing

Ein herzliches Dankeschön an Mathias Berek für das Gespräch.

Dies ist der zweite Beitrag der Reihe »Engagement & Demokratie in der jüdisch-deutschen Geschichte«.


Einige Bücher von und über Moritz Lazarus waren Teil der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Lazarus‘ Buch »Das Leben der Seele« von 1882 konnte im Rahmen des Projekts »Library of Lost Books« wiedergefunden werden und befindet sich nun im Jüdischen Museum in Prag. Die Ausgabe der Lebenserinnerungen von 1906 ist noch immer verschollen.