Rückblick: Zweitägiger Comic-Workshop mit Amcha-Deutschland
Rückblick: Zweitägiger Comic-Workshop mit Amcha-Deutschland
LBI London
Interview und Text:
Dr. Raphaela Kitzmantel
FEBRUAR 2024
„Die Aufgabe des LBI London ist es, für die anhaltende Bedeutung der deutsch-jüdischen Geschichte einzutreten und dabei ihre Komplexität und die Lehren, die sie für die Gegenwart bietet, zu betonen. „
Als Joseph Cronin im Jahr 2012 als junger Doktorand begann, sich am Leo Baeck Institut zu engagieren, lernte er bei den Vorstandssitzungen einige deutsch-jüdische Emigranten und Emigrantinnen der ersten Einwanderergeneration kennen – beim Ausschenken von Kaffee, wie er rückblickend erzählt. Seit September 2023 leitet Dr. Joseph Cronin nun das Leo Baeck Institut in London.
Für Cronin war die deutsch-jüdische Geschichte immer mit einem Gefühl des Britischen verwoben, so seltsam das auch klingen mag. In England begegnete er mehr deutschen Juden (von vor 1945) als in Deutschland, und in dieser Erfahrung steckt eine einzigartige Erzählung, die ihn sehr fasziniert. Es sind Flüchtlingsgeschichten, aber auch Geschichten der Anpassung an die Eigenheiten der britischen Kultur.
Unter den damals in diesem Kreis anwesenden jüdischen Emigranten:innen war auch der Historiker Peter Pulzer, der 1929 in Wien geboren wurde und 1939 nach Großbritannien floh, wo er zu einem der führenden Antisemitismusforscher und Vorstandsmitglied des Leo Baeck Instituts London wurde. Auf Dr. Joseph Cronin machte die Präsenz dieses prominenten österreichisch-britischen Mannes einen besonderen Eindruck. Jahre später reflektiert er, dass das Annehmen der Eigenheiten britischer Kultur dieser ersten Generation der jüdischen Weltkriegsflüchtlinge einen eigenen Forschungsstrang hervorbrachte, der auch seine eigene Beschäftigung mit dem Thema beeinflusste. Das Narrativ der Flüchtlingsgeschichte wurde um eine Spielart des Britischen ergänzt. Diese Eigenheit macht sich sogar manchmal schon an der äußeren Erscheinung der Personen bemerkbar: Pulzer beispielsweise sei stets makellos in britischem Tweed gekleidet erschienen, habe den entsprechenden Akzent des universitären Umfelds perfekt beherrscht, und hatte – in den Augen des damaligen Studenten Cronin – wohl auch selbst beabsichtigt, genuin britisch zu wirken.
Nicht alle assimilierten sich auf die gleiche Weise; viele behielten ein starkes Gefühl des Deutschseins. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Menschen, die von den Nazis aus Deutschland vertrieben wurden, von den Britinnen oft als vorbildliche Deutsche angesehen wurden – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Ein Besuch in einem deutsch-jüdischen Haushalt im Vereinigten Königreich ist unvollständig, ohne dass man Kaffee und Kuchen oder Stollen zu Chanukka angeboten bekommt. Andere Angehörige der ersten Generation der Emigrant:innen kultivierten dagegen eher ihre deutsch-österreichische Kulturzugehörigkeit. Obwohl diese Gruppe aus ihrem Sprachkreis brutal vertrieben worden war, wurde sie in England im Allgemeinen als authentisch „deutsch“ oder „österreichisch“ angesehen.
Wer heute als Student am Leo Baeck Institut volontiert, hat noch immer die Möglichkeit, in jüdischen Altersheimen auf Menschen zu treffen, die im Zuge eines Kindertransports nach England kamen. Wie lange wird das jedoch noch möglich sein? Und inwiefern wird der Generationenwechsel die durch deutsche Zuwanderung geprägte jüdische Kultur in Großbritannien verändern? Für Cronin ist es nun die dringlichste Aufgabe des Leo Baeck Instituts London, die Facetten des deutschsprachigen Judentums im spezifisch britischen Kontext hervorzuheben. Cronin befürchtet, dass diese Periode der Geschichte in Vergessenheit geraten könnte oder als weniger bedeutend angesehen würde. Dieses Gefühl mag zwar auch anderswo (sogar in Deutschland) vorhanden, aber im Vereinigten Königreich scheint es besonders ausgeprägt zu sein. Die Aufgabe des LBI London ist es, für die anhaltende Bedeutung der deutsch-jüdischen Geschichte einzutreten und dabei ihre Komplexität und die Lehren, die sie für die Gegenwart bietet, zu betonen. Welche Lehren können beispielsweise aus den geschichtlichen Erfahrungen des deutsch-österreichischen Judentums in Großbritannien gezogen werden? So lautet eine der Fragen, die es zu beleuchten gilt.
Aktuelle Projekte des LBI London
Als Forschungsinstitut stellt das LBI London einige für den akademischen Diskurs relevante Publikationen bereit, unter anderem das international renommierte „Leo Baeck Institute Yearbook“ (Oxford University Press) und die deutschsprachige „Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts“ (Mohr Siebeck). In Zusammenarbeit mit der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ fördert das Institut zudem im Rahmen eines akademischen Nachwuchsprogramms Doktorand:innen, die sich in ihren Dissertationen auf die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur fokussieren.
Um die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, setzen Cronin und die stellvertretende Direktorin Kinga Bloch, Expertin im Bereich der visuellen Geschichte, auf deren Vermittlung über digitale Medien. So entstand die Idee, in literarischen Schnappschüssen, sogenannten „Snapshots“ häppchenweise interessante Details aus den Quellen des Instituts der Öffentlichkeit zu zeigen. Dies erfolgt in Form von Postings in sozialen Medien und Blogeinträgen.
Die Inhalte dieser Schnappschüsse sind so divers wie die deutsch-jüdische Geschichte selbst. Der Bogen reicht von der Vorstellung von jüdischen Fliegerpiloten im Ersten Weltkrieg – fußend auf einer Publikation aus der Sammlung des Leo Baeck Instituts (Felix A. Theilhaber 1924, Erstausgabe Berlin 1919) – bis hin zu prominenten Frauenfiguren der Geschichte. Die renommierte Literatin Else Lasker-Schüler steht im Zentrum eines Snapshots, der über ihre Flucht in die Schweiz und später nach Palästina berichtet. In einem Kreis von intellektuellen Emigrant:innen lernte sie den Publizisten Manfred Vogel kennen. Dieser veröffentlichte nach Lasker-Schülers Tod 1945 in Jerusalem ihr zu Ehren eine Gedenkschrift, die sich nun in der Sammlung des Leo Baeck Instituts befindet.
Ein anderer Snapshot erzählt die Geschichte der frühen Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die als Tochter eines orthodoxen Getreidehändlers und einer Mutter aus einem Frankfurter Bankiershaus in einer katholischen Privatschule erzogen wurde. In nur wenigen Absätzen wird der Fokus auf die vielen Facetten dieser ungewöhnlichen Frau gelegt, die die innere Stärke besaß, psychische Krisen zu überwinden und sich für soziale Gerechtigkeit, die Unterstützung von Mädchen und bessere Integration alleinerziehender Mütter in jüdischen Gemeinden einzusetzen.
Ein gemeinsames Herzensprojekt der Leo Baeck Institute in Jerusalem und London sowie der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts in Berlin und Frankfurt ist das internationale Citizen-Science-Projekt “Library of Lost Books“. Dieses Bibliotheksprojekt fußt auf den in der Nazizeit geraubten Büchern der ehemaligen „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin (1872-1942), die nun weltweit in gemeinsamer Arbeit aufgespürt werden sollen. Auf einer interaktiven Webseite wird der ursprüngliche Bestand auf einer virtuellen Karte abgebildet und im Rahmen der Möglichkeiten mit echten Exemplaren wiederhergestellt. Involviert sind neben vielen Initiativen vor allem das bekannte Londoner Victoria and Albert Museum, das eine Suche nach Büchern in seinen Auktionskatalogen anbietet. Auch die nach Alfred Wiener benannte Wiener Holocaust Library, eine Einrichtung zur Holocaustforschung mit Sitz in London, ist beteiligt. Im Rahmen einer Pop-Up Ausstellung werden dort eigene Bestände und Leihgaben von Partnerorganisationen vorgestellt.
Für die im Projekt involvierten Leo Baeck Institute besteht eine besondere Nähe zu dieser Hochschule; unter anderem aufgrund der Tatsache, dass ihr Namensgeber, der Rabbiner und Gelehrte Leo Baeck, selbst dort tätig war und als letzter verbliebener Professor gemeinsam mit seinen Studierenden nach Theresienstadt deportiert wurde. Zuvor war die als Rettung anvisierte Umsiedlung des Instituts nach London gescheitert. An sogenannten „Aktionstagen“ werden Wissenschaftler:innen und Forscher:innen, Bibliothekar:innen und ein interessiertes Publikum eingeladen, sich an der Suche zu beteiligen.
Als Lehrbeauftragte an der School of History der Queen Mary University forscht und lehrt Kinga Bloch unter anderem zu Erfahrungen von Minderheiten in einer Gesellschaft. Unter den Studierenden nimmt sie ein großes Interesse an diesem Thema wahr, denn für viele unter ihnen ist es tagtäglich relevant. Im Unterricht kann an die Lebensrealität der heutigen Jugend angeknüpft und eine Brücke zu den Erfahrungen der jüdischen Minderheiten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschlagen werden. Auch Fragen zu Inklusion, Identität und Geschlechterrollen, Ethnien und Religionen entstehen in diesem Zusammenhang. Digitale Medien eignen sich für die Lehre in diesem Zusammenhang erfahrungsgemäß zwar gut, jedoch bestehe hier die Gefahr von falschen Quellenangaben oder ungeprüften Inhalten. Die Diskussion über den Wahrheitsgehalt von Inhalten lasse sich wiederum besonders gut online und öffentlich führen, ist Kinga Bloch überzeugt. Indem das Institut über die erwähnten Aktivitäten auf Webseiten und sozialen Medien in einen Dialog mit Außenstehenden tritt, trägt es im gleichen Atemzug auch zu dem für die Wissenschaft unerlässlichen Prüfen von Quellen bei.
Letztendlich sei zu erwähnen, dass Joseph Cronin und sein Institut bei den Bestrebungen, das Erbe der deutsch-jüdischen Kultur in Großbritannien lebendig zu erhalten, eng mit der jüdischen Gemeinde vor Ort zusammenarbeitet. Dabei solle die jüdische Kultur und Geschichte nicht nur bewahrt, sondern gefeiert werden. Vielleicht bei einem gemeinsamen Kaffee, der in überlieferter Wiener Tradition zum Plaudern anregt.
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