Hugo Preuß – Demokratischer Kämpfer und Architekt der Weimarer Verfassung

Hugo Preuss. Foto: Wikipedia.

In der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gab es Kräfte von links und rechts mit diametral entgegengesetzten Ideen zur Neugestaltung des Landes. In etwa dazwischen verortet befand sich Hugo Preuß, der vom liberalen Theoretiker zu einem der wichtigsten Akteure bei der Gestaltung einer demokratischen Verfassung in der Weimarer Republik wurde. Wenige wissen heute noch von dieser einflussreichen Person. Sein politisches Erbe ist beeindruckend, und seine Bedeutung für die heutige Demokratie in der Bundesrepublik ein Grund, sich näher mit seiner Person zu beschäftigen.

Dr. Joseph Cronin ist Direktor des Leo Baeck Instituts in London und auf die Forschung zum jüdischen Leben in Deutschland nach der Schoa spezialisiert. Er hat an King’s College London und Queen Mary University of London unterrichtet und ist derzeit Dozent an der Birkbeck Universität in London. Besonders interessiert ihn, wie die Geschichte der deutschen Juden auch heute noch relevant für gegenwärtige Probleme sein kann.

Eine Gesellschaft, in der nicht von oben nach unten regiert wird – darüber sprach Lutz Vössing mit Joseph Cronin.

Wie wurden Sie auf Hugo Preuß aufmerksam?

Ich stieß zum ersten Mal auf Hugo Preuß, als ich einen Grundkurs über deutsch-jüdische Geschichte unterrichtete. Sein Name fiel mir auf, weil er eine so entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Weimarer Verfassung spielte, obwohl er weit weniger bekannt ist als viele seiner Zeitgenossen.

Was hat Sie an ihm fasziniert?

Das war die Vielschichtigkeit seines Charakters – er war ein Rechtsgelehrter, ein liberaler Denker, ein stolzer Deutscher und ein überzeugter Demokrat. Aber auch jemand, der sich den Herausforderungen, denen sich die Juden in Deutschland zu jener Zeit gegenübersahen, zutiefst bewusst war. Er lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken, was seine Untersuchung umso faszinierender macht.

Was für einer Familie entstammt er?

Hugo Preuß stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Berlin. Sein Vater war Rechtsanwalt, was zweifellos seinen eigenen Weg in die Rechtswissenschaft und Politik beeinflusste. Obwohl er einen jüdischen Hintergrund hatte, war Preuß nicht besonders religiös – er identifizierte sich eher mit der liberalen deutschen Tradition als mit einer spezifischen jüdischen Identität. Dennoch war das Jüdischsein im Deutschland des 19. Jahrhunderts nie nur eine private Angelegenheit; es beeinflusste, wie andere ihn sahen und in gewissem Maße auch wie er seine Karriere steuerte. Sein Hintergrund gab ihm eine einzigartige Perspektive auf Fragen der Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit, die später in seine Arbeit an der Weimarer Verfassung einfloss.

Wie kam er dann zur Politik?

Preuß war kein Politiker im herkömmlichen Sinne – er war in erster Linie ein Rechtsgelehrter. Die meiste Zeit seiner Karriere verbrachte er damit, über Recht und Staat zu schreiben, an der Universität Berlin zu lehren und darüber nachzudenken, wie Deutschland regiert werden sollte. Aber seine Ideen hatten auch einen politischen Aspekt.

Er war ein überzeugter Anhänger der Demokratie und der kommunalen Selbstverwaltung, was ihn in Konflikt mit den eher autoritären Tendenzen im kaiserlichen Deutschland brachte. Sein erster wirklicher Schritt ins politische Leben erfolgte 1918, als Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg eine Verfassungsreform plötzlich zu einem dringenden Thema machte. Er wurde eingeladen, an der Ausarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung für Deutschland mitzuwirken – ein außergewöhnlicher Moment, in dem Theorie und Praxis zusammenkamen.

Wer waren seine Vorbilder und Begleiter:innen?

Preuß war stark beeinflusst von den liberalen Denkern des 19. Jahrhunderts in Deutschland – wie Karl von Rotteck und Robert von Mohl, die sich für Konstitutionalismus und Rechtsstaatlichkeit einsetzten. Er fühlte sich auch von den französischen und angloamerikanischen politischen Traditionen angezogen, insbesondere von deren Betonung der Staatsbürgerschaft und der individuellen Rechte. Als Weggefährte stand er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der wichtigsten liberalen Partei der Weimarer Zeit, nahe und arbeitete mit Persönlichkeiten wie Friedrich Naumann zusammen, die seine Vision eines demokratischen, föderalen Deutschlands teilten. Doch Preuß war nie ein Parteipolitiker im engeren Sinne – er war eher ein gelehrter Staatsmann, jemand, der intellektuelles Gewicht in die politischen Debatten seiner Zeit einbrachte.

Plakat der DDP. Bild: LBI.
Plakat der DDP. Bild: LBI.

Der Begriff „Obrigkeitsstaat” stammt von Preuß. Was bedeutet er?

Ja, der Begriff Obrigkeitsstaat war einer der Schlüsselbegriffe von Preuß. Er benutzte ihn, um das preußisch dominierte Deutschland seiner Zeit zu beschreiben, in dem die Macht von oben nach unten floss und von den Bürgern eher Gehorsam als Mitwirkung erwartet wurde. Es ging nicht nur um Gesetze und Institutionen, sondern um eine Denkweise, eine Art des Regierens, die die Demokratie auf Distanz hielt. Preuß sah darin ein grundlegendes Problem und verbrachte einen Großteil seiner Karriere damit, für eine andere Art von Staat zu plädieren – einen Staat, in dem die Bürger nicht nur Untertanen waren, sondern aktiv an der Gestaltung ihrer eigenen Regierung mitwirkten. Seine Arbeit an der Weimarer Verfassung war in vielerlei Hinsicht ein Versuch, sich vom Obrigkeitsstaat zu lösen und etwas Demokratischeres zu schaffen.

Wie sah dieses demokratische Deutschland für ihn aus?

Preuß’ Vision für Deutschland war geprägt von seinem Glauben an Demokratie, Konstitutionalismus und Föderalismus. Er wollte das alte preußische Modell der Herrschaft von oben nach unten – den Obrigkeitsstaat – überwinden und einen Staat schaffen, in dem die Macht gleichmäßiger verteilt war, sowohl zwischen der Regierung und den Bürgern als auch zwischen den verschiedenen Regionen Deutschlands. Er war ein starker Befürworter der kommunalen Selbstverwaltung und glaubte, dass die Demokratie am besten funktioniert, wenn die Menschen auf allen Ebenen aktiv in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.

Gleichzeitig war er ein deutscher Nationalist im liberalen Sinne – er wollte ein starkes, geeintes Deutschland, das jedoch der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet war. Seine größte Herausforderung bestand darin, diese Ideale mit den politischen Realitäten in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in Einklang zu bringen. Die Weimarer Verfassung war sein Versuch, seine Vision in die Praxis umzusetzen, aber die Kräfte des Konservatismus, des Militarismus und des politischen Extremismus machten es schwierig, sie vollständig zu verwirklichen.

Das klingt für seine Zeit ziemlich progressiv!

Auf jeden Fall – Preuß’ Vision war für seine Zeit bemerkenswert fortschrittlich. Er wollte ein modernes, demokratisches Deutschland schaffen, in dem die Macht geteilt und nicht von Eliten gehortet wird. Mit seiner Betonung von Verfassungsrechten, Volkssouveränität und kommunaler Selbstverwaltung war er vielen seiner Zeitgenossen voraus. Er glaubte auch an eine umfassendere Idee der Staatsbürgerschaft, was angesichts der Geschichte Deutschlands, in der bestimmte Gruppen, einschließlich der Juden, ausgeschlossen wurden, von besonderer Bedeutung war.

Seine Ideen fanden sicherlich nicht überall Anklang…

Viele Konservative hielten sie für zu radikal, während die Sozialisten der Meinung waren, sie gingen nicht weit genug. Und natürlich tat sich die Weimarer Republik selbst schwer damit, ihren demokratischen Idealen gerecht zu werden. Betrachtet man jedoch den langen Bogen der deutschen Geschichte, so stellt man fest, dass viele der von Preuß vertretenen Prinzipien – konstitutionelle Demokratie, Föderalismus und Bürgerrechte – für das moderne Deutschland von zentraler Bedeutung wurden.

Preuß wird heute als „Vater der Weimarer Verfassung“ bezeichnet. Können Sie das erklären?

Er war ihr Hauptarchitekt. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg wurde er 1918 mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt, die das alte kaiserliche System ersetzen sollte. Es war eine außergewöhnliche Herausforderung – Deutschland war in Aufruhr, der Kaiser hatte abgedankt, und das Land stand am Rande einer Revolution.

Welchen Einfluss hatte er letztendlich auf die fertige Verfassung?

Sein Entwurf bildete die Grundlage für die spätere Weimarer Verfassung. Es war ein kühner Versuch, ein demokratisches Deutschland zu schaffen, mit einem starken Parlament, bürgerlichen Freiheiten und dem Schutz der individuellen Rechte. Außerdem entwarf er ein föderales System in der Hoffnung, die Macht zu dezentralisieren und von den autoritären Traditionen Preußens wegzukommen.

Inwieweit konnte er seine Ideen durchsetzen?

Natürlich war die endgültige Fassung der Verfassung von politischen Kompromissen geprägt, und einige von seinen Ideen – wie ein stärker dezentralisierter Staat – wurden verwässert. Aber sein Einfluss war unübersehbar. Die Weimarer Verfassung war in vielerlei Hinsicht seine Vision eines demokratischen Deutschlands, das in ein Gesetz gegossen wurde.

Erste Sitzung des Scheidemann-Kabinetts auf Anfragen des Präsidenten Eberts. Foto: Wiki.
Erste Sitzung des Scheidemann-Kabinetts auf Anfragen des Präsidenten Eberts. Foto: Wiki.

Wer waren seine politischen Gegner?

Er hatte keinen Mangel an politischen Feinden. Seine Vision eines demokratischen, dezentralisierten Deutschlands war bei den Konservativen zutiefst unpopulär, insbesondere bei den alten preußischen Eliten, dem Militär und der Justiz. Sie sahen in ihm einen gefährlichen Radikalen – jemanden, der die traditionellen Machtstrukturen, die Deutschland jahrzehntelang geprägt hatten, aufbrechen wollte.

Er war auch bei der extremen Rechten unbeliebt, die nicht nur seine demokratischen Ideen ablehnte, sondern in ihm auch die Verkörperung all dessen sah, was sie verachtete: einen Liberalen, einen Demokraten und einen Juden. Die Nationalsozialisten bezeichneten ihn später als einen der „Verräter“, die für die sogenannte Demütigung Weimars verantwortlich waren.

Wie sahen linke Kräfte seine Ideen?

Sozialisten und Kommunisten waren der Meinung, dass die Weimarer Verfassung nicht weit genug ging, um mit der alten Ordnung zu brechen. Preuß befand sich also in einer schwierigen Lage – zu radikal für die Rechte, zu gemäßigt für die Linke. Diese Spannung spiegelt wider, wie prekär die Weimarer Demokratie von Anfang an war.

Was bleibt heute von ihm?

Hugo Preuß ist heute kein bekannter Name, aber sein Vermächtnis ist immer noch präsent. Seine größte Errungenschaft – die Weimarer Verfassung – war bei weitem nicht perfekt, aber sie legte den Grundstein für die spätere demokratische Entwicklung in Deutschland. Viele ihrer Kernprinzipien, wie Grundrechte, Föderalismus und Rechtsstaatlichkeit, fanden nach 1949 Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Darüber hinaus bleibt sein Name ein Symbol für die freiheitlich-demokratische Tradition in Deutschland – eine Tradition, die zu seiner Zeit zerbrechlich war, sich aber letztlich als beständiger erwies, als es sich seine Gegner vielleicht vorgestellt hatten. Sein Name erinnert auch an den Beitrag, den die deutschen Juden zur Demokratie und zum politischen Denken geleistet haben, selbst im Angesicht von Anfeindungen. Heute tragen Straßen und Schulen in Deutschland seinen Namen, und Historiker:innen beschäftigen sich weiterhin mit seinem Werk. Auch wenn er nicht so bekannt ist wie einige seiner Zeitgenossen, so haben seine Ideen doch das Deutschland geprägt, das wir heute kennen.

Text: Lutz Vössing

Dieser Beitrag ist Teil der der Reihe »Engagement & Demokratie in der jüdisch-deutschen Geschichte«.