Wir trauern um die jüdische deutsche Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron, die sich zeitlebens gegen das Vergessen des Holocausts und gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland einsetzte. Heute, am 9. März, ist sie in ihrer Heimatstadt Berlin gestorben.
„Ein langes Leben des Kampfes für Gerechtigkeit und gegen antisemitische und rechtsextreme Tendenzen in unserer Gesellschaft ist zu Ende gegangen. Berlin und die Bundesrepublik Deutschland haben diesem unermüdlichen Kämpfer für die Erinnerung an die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands viel zu verdanken. Wir verlieren einen kämpferischen Freund“, erklärte André Schmitz, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin, Vorsitzender der Inge Deutschkron Stiftung und Freund des Leo Baeck Instituts.
Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren. Als Jüdin überlebte sie die Schrecken des Nationalsozialismus und setzte sich zeitlebens für die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit ein. Sie machte aber auch deutlich, dass die Menschen auch in dieser Zeit eine Wahl hatten. Und sie hörte nie auf, von den vielen Menschen und Familien in und um Berlin zu erzählen, die sie und ihre Mutter vor der Verfolgung durch die Nazis versteckten.
Im Jahr 1933 erfährt Inge Deutschkron von ihrer Mutter Ella, dass sie Jüdin ist. Ihre Mutter sagt: „Lass dir nichts gefallen, wehre dich!“ Inge Deutschkron ist zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Diese Anweisung ihrer Mutter wird zu ihrem Lebensmotto. Ihr Kampfgeist hilft ihr, der mörderischen Zwangsarbeit bei der IG Farben zu entkommen und einen Platz in der Bürsten- und Besenwerkstatt von Otto Weidt zu finden. Sie und ihre Mutter überleben in der Illegalität in zehn verschiedenen Verstecken in Berlin. Ohne ihren Vater Martin, einen sozialdemokratischen Lehrer, der zwar noch rechtzeitig emigrieren konnte, aber nur allein.
1945/46, nach dem Krieg, arbeitet Inge Deutschkron als Sekretärin in der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetisch besetzten Zone. Sie stimmt gegen die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur einzigen ostdeutschen Partei SED und entgeht der drohenden Verhaftung, indem sie schließlich mit ihrer Mutter nach Großbritannien emigrieren kann. Nach acht Jahren in Großbritannien reist Inge Deutschkron allein durch Indien, Birma, Nepal und Israel. Sie finanziert sich mit Reiseberichten und Vorträgen. 1955 kehrt sie nach Deutschland in die westdeutsche Hauptstadt Bonn zurück, wo sie im Generalsekretariat der Arbeiterwohlfahrt und als Journalistin arbeitet. Sie trifft auf ehemalige NS-Funktionäre in vielen hohen Staatsämtern, Behörden und Institutionen und auf eine Bevölkerung, die sich nicht mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzen will. In dieser Zeit lernt Inge auch meine Mutter und meinen Vater Rosmarie und Kurt Nemitz kennen, die zu dieser Zeit ebenfalls als Journalisten arbeiten. Inge wurde eine sehr enge Freundin meiner Eltern und unterstützte die journalistische Arbeit meines Vaters über den nationalsozialistischen Hintergrund von Hans Globke, dem damaligen Kanzleramtschef von Bundeskanzler Adenauer. Meine Mutter erhielt von Inge Materialien und Hinweise für ihre journalistische Arbeit über Frauen und die soziale Lage. Ein Teil dieser Korrespondenz befindet sich im Archiv meiner Mutter.
Ab 1963 begleitete Inge als Korrespondentin der Zeitung Maàriv in Tel Aviv den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, bei dem die meisten Angeklagten mit milden Strafen davonkamen.
1972 wandert Inge Deutschkron nach Israel aus. Sie schreibt das Buch „Ich trug den gelben Stern“, das 1978 in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht wird und ein großer Erfolg wird (https://www.dtv.de/buch/ich-trug-den-gelben-stern-30000).
1989 wird das Buch als Theaterstück „Ab heute heißt Du Sarah“ am Grips-Theater erfolgreich aufgeführt und bringt Schülerinnen und Schüler mit Inge Deutschkron ins Gespräch. Es steht noch heute auf dem Spielplan des Theaters und wird in vielen deutschsprachigen Theatern gespielt.
Ich bin 1962 geboren und erinnere mich an mehrere Besuche von Inge bei uns zu Hause, als ich ein kleiner Junge war und sie viele Wochen im Sommer in unserem Garten verbrachte. Inge war unverheiratet und genoss das Familienleben mit uns. Wir genossen ihre eindringlichen Interventionen und Meinungen in unseren Diskussionen am Esstisch. Ihr Buch von 1978 erschien ungefähr zu der Zeit, als die US-Fernseh-Miniserie „Holocaust“ erschien. Und so wurde Inge gebeten, an vielen Diskussionen über diese Fernsehserie und ihr Buch teilzunehmen.
Im Jahr 2001 kehrt Inge Deutschkron nach jahrelangem Pendeln zwischen Tel Aviv und Berlin endlich dauerhaft nach Berlin zurück. Ihr Thema ist diesmal u.a. die Ehrung der sogenannten stillen Helden in Deutschland. Es gibt viele Gründe, warum Inge nach Berlin zurückgekehrt ist. Einer war sicherlich, dass sie in der Welt des Theaters und der Kultur viele Freunde und Förderer gewonnen hatte, insbesondere auch durch die Arbeit an der Theaterinszenierung ihres Buches und der späteren Filmproduktion. Sie fühlte sich in Berlin und Deutschland wieder zu Hause.
2006 gründet Inge Deutschkron mit Hilfe von Andre Schmitz, Kultursenator und Vorsitzender der Schwarzkopf-Stiftung, die nach ihr benannte Stiftung zur Förderung von Toleranz und Zivilcourage und zur Bewahrung des Andenkens an jene „stillen Helden“, die sich unter großem persönlichen Risiko für Verfolgte eingesetzt haben. Ihr persönliches Archiv ist in der Akademie der Künste.
Inge Deutschkron wird den Berlinern durch ihre vielen Initiativen in Erinnerung bleiben. Ohne ihr Wirken gäbe es den einzigen authentischen Ort des Gedenkens an die sogenannten „stillen Helden“ in Deutschland, die Otto-Weidt-Gedenkstätte in der Rosenthaler Straße in Berlin, mit über 80.000 Besuchern pro Jahr, nicht. Heute ist sie Teil der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Die seit 2012 jährlich stattfindende Veranstaltung zum Gedenken an die am 18. Oktober 1941 vom Bahnsteig 17 im Grunewald erstmals deportierten Berliner Juden, zu denen auch mein Grossvater Dr. Julius Moses, MdR, gehörte, sowie die Benennung des großen Otto-Weidt-Platzes in der neuen Europa-City am Hauptbahnhof gehen auf ihr Engagement zurück.
Am 30. Januar 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag eine bewegende Rede anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus (siehe https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2013/rede_deutschkron-252298 ).
In zahlreichen Büchern, Zeitungsartikeln und Vorträgen mahnte sie stets gegen das Vergessen in der jungen Bundesrepublik Deutschland während der Ära Adenauer und danach. Sie und ihr Werk waren ein ständiger Stachel gegen die kollektive Verdrängung. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, so 1994 mit dem Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin. Im Jahr 2002 erhielt sie die Rachel-Varnhagen-von-Ense-Medaille und den Verdienstorden des Landes Berlin, 2008 den Carl-von-Ossietzky-Preis und die Luise-Schroeder-Medaille ihrer Heimatstadt. 2018 wurde ihr die Ehrenbürgerschaft von Berlin verliehen. Vielleicht die schönste Auszeichnung für sie, denn sie hat sich immer als leidenschaftliche Berlinerin gesehen.
Die Inge Deutschkron Stiftung unterstützte 2018 die Veröffentlichung ihres letzten Buches „Ausschwitz war nur ein Wort“, herausgegeben von Beate Kosmala und erschienen im Metropol Verlag (siehe https://metropol-verlag.de/inge-deutschkron-auschwitz-war-nur-ein-wort/). Darin werden die großen Zeitungsberichte aus dem Frankfurter Ausschwitz-Prozess – ursprünglich für überwiegend israelische Zeitungen – für die deutschsprachige Öffentlichkeit veröffentlicht.
Ich werde Inge als eine der besten Freundinnen meiner Mutter in Erinnerung behalten, die ein Jahr später als sie geboren wurde, und als Ersatzmutter in Zeiten, in denen meine Mutter mich mit ihr in unserem Haus allein ließ. In den letzten Jahren ihres Lebens war Inge in ein Altersheim am Kurfürstendamm in Berlin gezogen. Sie hatte manchmal Tagträume von Verfolgungsängsten und fragte mich bei meinen Besuchen bei ihr, ob sie und ich in Sicherheit seien, ob ich verfolgt worden sei und ob meine Eltern in Sicherheit seien. Obwohl sie bis zu ihrer Verschlechterung des Gesundheitszustands eine optimistische und fröhliche Person blieb, waren diese Gespräche, die von Ängsten geprägt waren, die sich aus den Erinnerungen an ihre Aufenthalte in dunklen Räumen von Verstecken ergaben, eine düstere Erinnerung daran, dass der schreckliche Schaden, den das Naziregime den Menschen zugefügt hat, selbst bei den stärksten und optimistischsten Überlebenden seine Spuren hinterlassen hat. Inge, wir vermissen dich.
Paul Nemitz
Trustee des Leo-Baeck-Instituts New York | Berlin
Schatzmeister der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e. V.