Befreit, aber nicht frei – Michael Brenner spricht über den 8. Mai

Harry Weinsaft vom American Jewish Joint Distribution Committee gibt der dreijährigen Renati Rulhater, einem jüdischen Displaced-Person-Kind in Wien, Österreich, Essen. Foto: Wikipedia

Am 7. Mai hielt Prof. Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München sowie internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts, auf Schloss Glienicke den Eröffnungsvortrag zur Tagung »80 Jahre Kriegsende: Jüdische Perspektiven auf Neuanfänge in Deutschland und Europa in der Nachkriegszeit«.

Was bedeutete der 8. Mai 1945 für die überlebenden Jüdinnen und Juden Europas – Tag der Befreiung oder Beginn eines langen Weges zur Freiheit? In einem sehr persönlichen Rückblick erzählt Michael Brenner vom »zweiten Geburtstag« seiner Eltern, die die Shoa überlebten, aber ein Leben lang mit seinen Folgen lebten. Der Beitrag beleuchtet, wie aus Befreiung nicht automatisch Freiheit wurde – und warum viele Überlebende Europa für immer den Rücken kehrten. Er zeigt eindringlich, wie Erinnerung, Identität und Zugehörigkeit in der Nachkriegszeit neu verhandelt wurden. Eine bewegende Reflexion über das Weiterleben nach dem Unvorstellbaren – und die Suche nach einem Ort, an dem man wirklich frei sein konnte.

Eine Pessach-Haggadah aus dem Lager Föhrenwald. Foto: Wiki.

Ein wichtiger Ort, über den Brenner spricht, ist Föhrenwald, ein ehemaliges Lager für Displaced Persons (DP) in der Nähe von Wolfratshausen bei München, das nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem jüdischen Überlebenden der Shoah als Unterkunft diente. Es entwickelte sich zu einer der größten jüdischen Gemeinden in der amerikanischen Besatzungszone und bestand bis 1957. Föhrenwald war nicht nur ein Zufluchtsort, sondern auch ein Ort jüdischen Lebens, religiöser Erneuerung und politischer Selbstorganisation in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Der Text erschient erstmals am 8.5. in der FAZ

Schoah-Überlebende nach 1945: Befreit – aber nicht frei

Freiheit bedeutet nicht nur, sich aus Fesseln der Gewalt zu lösen, sondern auch über sein Schicksal bestimmen zu können. Konnten das die der Hölle entkommenen Juden am 8. Mai 1945 und danach? Was der Tag für meine Eltern und Juden aus ganz Europa bedeutete.

Am 8. Mai feiern meine Eltern ihren 80. Geburtstag. Nun, die Wahrheit ist, dass mein Vater bereits im März seinen 109. Geburtstag gefeiert hätte und meine Mutter im vergangenen November 100 geworden wäre. Doch sie wurden ein zweites Mal geboren. Am 8. Mai 1945. An diesem Tag befreite sie die Rote Armee: Meinen Vater aus dem Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen in Waldenburg (heute Wałbrzych), meine Mutter 250 Kilometer westlich davon aus ihrem Versteck in Dresden.

Für sie beide war der 8. Mai ein Tag der Neugeburt – nach Jahren in verschiedenen Ghettos und Konzentrationslagern für meinen Vater, nach Jahren der Zwangsarbeit, des Sterntragens und zuletzt des Untertauchens für meine Mutter. Wie Tausende anderer überlebender Juden waren sie befreit – aber waren sie auch frei?

Sie kamen aus Baracken, Wäldern und Verstecken

Frei zu sein – das bedeutet nicht nur, sich aus den Fesseln der Gewalt zu lösen, sondern auch frei über sein Schicksal bestimmen zu können. Aber konnten das die eben der Hölle entkommenen Juden in der sogenannten Stunde null und auch in den Jahren danach wirklich? Sie, die Überlebenden, machten einen kleinen Bruchteil ihrer sechs Millionen ermordeten Verwandten aus.

Sie kamen aus den Baracken der befreiten Konzentrationslager, sie kamen aus den Wäldern und Feldern der Todesmärsche, sie kamen aus den Kellern der Verstecke deutscher Großstädte, sie kamen aus den Zellen von Klöstern und von Kerkern, sie kamen aus den Steppen in Sibirien und Usbekistan, sie kamen aus dem fernen Exil in Shanghai und Bolivien und Kenia.

Der größte Teil dieses sogenannten Rests der Überlebenden, der sche’erit ha’pleta, stammte aus der einst mehr als drei Millionen Menschen umfassenden polnischen Judenheit sowie anderen jüdischen Gemeinden Osteuropas. Viele von ihnen waren nun erst einmal wieder hinter Stacheldraht und Mauern in neuen Lagern zusammengefasst.

Der von der amerikanischen Regierung entsandte Earl Harrison kam im August 1945 nach einer ausgiebigen Untersuchung der Situation der überlebenden Juden in mehr als dreißig Lagern der amerikanischen Zone Deutschlands in seinem Bericht zu dem niederschmetternden Ergebnis: „We appear to be treating the Jews as the Nazis treated them, except that we do not exterminate them“ – „Wir scheinen die Juden so zu behandeln, wie die Nazis sie behandelt haben, nur dass wir sie nicht ausrotten.“

Die blutgetränkte Erde hinter sich lassen

Aus einigem Abstand betrachtet muss man sagen, dass Harrisons Worte natürlich überspitzt waren und vor allem Wirkung erzielen wollten. Aber es war ihm als außenstehendem Beobachter sofort klar, dass die Befreiten keineswegs in Freiheit lebten. So kommt er zu dem Schluss, die überlebenden Juden seien zwar befreit, aber nicht frei.

Die DP-Lager, die er besuchte, dienten vor allem als eine große Wartehalle, bis man endlich die sogenannte „blutgetränkte Erde“ Deutschlands hinter sich lassen konnte. DPs – Displaced Persons, das war der Name, den die Alliierten für Zivilpersonen aus alliierten Staaten prägten, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und nicht ohne Weiteres zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten. Darunter waren Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, aber auch Flüchtlinge aus Stalins Reich, die zu den Nazis übergelaufen waren – und eben die jüdischen Überlebenden.

Displaced bedeutete, neben und außer sich zu sein

Wer immer den Namen Displaced Persons erfunden hatte, war sich wohl gar nicht bewusst, wie treffend er für diese letzte Gruppe war. Denndisplaced war nicht nur der Ort, an dem sie sich befanden, sondern auch ihr Zustand. Oft waren sie die Einzigen aus ihren Familien, die überlebt hatten. Dabei wird oft vergessen: Nicht nur ihre Eltern und Geschwister, nein, auch ihre Ehepartner (zumeist Frauen) und ihre Kinder waren vielfach dem Massenmord zum Opfer gefallen.

Displaced – das bedeutete auch, im wahrsten Sinne des Wortes, neben sich und außer sich zu sein. Selbst wenn man wieder heiratete, wieder Familien gründete, wieder eine Existenz aufbaute, wie konnte man wieder derselbe Mensch wie vorher werden? Wie konnte man da weitermachen, wo man 1933 oder 1939 aufgehört hatte? Auch in diesem Sinne verstand ich den zweiten Geburtstag, den meine Eltern feierten. Sie feierten nicht nur das Überleben. Sie begingen einen Tag, an dem sie als neue Menschen wiedergeboren wurden.

Es gab oft nichts mehr, an das man anknüpfen konnte, weil die gesamte jüdische Lebenswelt, vor allem in Osteuropa, zerstört worden war. Deswegen und wegen des anhaltenden Antisemitismus, der in Polen noch nach Kriegsende mehr als tausend Juden das Leben kostete, verließen etwa neunzig Prozent der jüdischen Displaced Persons, die noch 1947 in den Westzonen Deutschlands und in Österreich, teilweise auch in Italien lebten, Europa.

Denn, wie es einer ihrer Sprecher, Samuel Gringauz, unmissverständlich ausdrückte: Europa verbanden die wenigen Überlebenden nun nicht mehr mit Westminster Abbey oder Versailles, nicht mit dem Straßburger Münster oder den Kunstschätzen von Florenz. Europa – das bedeutete für sie die mittelalterlichen Kreuzzüge, die spanische Inquisition, die Pogrome in Russland und die Gaskammern von Auschwitz. Für sie gab es nur eine Konsequenz aus dem Holocaust: dem ganzen Kontinent den Rücken zu kehren. „Adieu Europa!“ lautete Gringauz’ Motto.

Freiheit war nur weit weg von Europa vorstellbar

Befreit wurden sie in Auschwitz und Bergen-Belsen, in Dachau und Flossenbürg. Frei zu sein, das war für die meisten Juden aber nur weit weg von Europa vorstellbar: in Australien und Südamerika, in den Vereinigten Staaten und vor allem im eigenen nun erst ausgerufenen jüdischen Staat. Man kann die heutige Diskussion um Zionismus und Israel nicht verstehen, wenn man nicht die Situation der Jahre vor seiner Staatsgründung genau betrachtet.

Millionen der potentiellen Staatsbürger dieses neuen Staates waren ermordet worden. Manche von ihnen hätten gerettet werden können, wenn dieser Staat zehn Jahre früher gegründet worden wäre. Für die meisten, die übrig blieben, war der eigene Staat die einzige Antwort auf den Holocaust. Nicht nur befreit zu sein, sondern frei zu sein, bedeutete für sie, im Rahmen staatlicher Souveränität über ihr eigenes Schicksal verfügen zu können.

Auch die Einwohner Palästinas zahlten für die Verbrechen

Mit der heute im Wissenschaftsdiskurs so populären Floskel vom Siedlerkolonialismus kann man nicht verstehen, was die Gründung des Staates Israel drei Jahre nach dem Holocaust wirklich ausmachte. Hier war ein Staat im Entstehen, der den Entwurzelten, den Verzweifelten, den Vereinzelten eine neue kollektive Heimat auf dem historischen Boden ihres Volkes versprach, ein Staat, dessen Vertreter nicht wie auf der Konferenz von Evian nur zehn Jahre vorher erst lange darüber beraten mussten, ob sie die vom Tod Bedrohten aufnehmen würden – nur um es dann doch nicht zu tun.

Nein, dies war ihr Staat, in dem sie ihren festen Platz hatten und in dem sie selbst frei über ihr eigenes Schicksal bestimmen konnten. Diese Freiheit bedeutete Israel für die überlebenden Juden – dabei war es im Übrigen zweitrangig, ob sie selbst dort hingingen oder sich für ein anderes Ziel entschieden, das noch weiter weg von Europa war und in dem kein Krieg herrschte – und aus dem man auch niemanden vertreiben musste.

Zu zahlen für die europäischen Verbrechen hatten am Ende auch die arabischen Einwohner Palästinas, die für diese Verbrechen nicht verantwortlich waren. Sie wurden damit zu indirekten Opfern der deutschen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Aber ihnen ist nicht dadurch Gerechtigkeit zu leisten, indem man den Nachkommen der aus Warschau und Budapest, Berlin und Saloniki, später auch aus Bagdad und Casablanca vertriebenen und geflüchteten Juden sagt: „Geht wieder zurück, woher eure Familien kamen“ – und auch nicht dadurch, dass man ihnen heute sagt: „Baut euren Staat wieder ab, begebt euch wieder in die Abhängigkeit anderer.“

Man kann zu Recht vieles an dem verurteilen, was aus Israel seit 1948 und vor allem seit 1967 geworden ist und was die jetzige Regierung im Namen jüdischer Souveränität anrichtet, aber als historisch bewusster Mensch darf man nicht vergessen, warum und wofür dieser Staat existiert.

Die Entscheidung, zu bleiben, trafen viele nicht bewusst

Neunzig Prozent der bis zu 300.000 jüdischen DPs, die zwischen 1945 und 1950 zeitweilig auf deutschem Boden lebten, verließen also Europa. Doch was war mit den anderen zehn Prozent, dem Rest des Restes der Geretteten, die blieben? Die meisten der etwa 30.000 Juden, die auch in Deutschland blieben, nachdem es 1948 einen jüdischen Staat gab und die USA ihre Einwanderungsgesetze liberalisierten, hatten gar nicht bewusst die Entscheidung getroffen, hier zu bleiben. Sie waren einfach geblieben oder, wie es in ihrem Jargon später oft hieß: hängen geblieben – nicht etwa eingewandert.

Man hätte schon an der Zurechnungsfähigkeit von jemandem zweifeln müssen, der ausgerechnet in das Land einwandern wollte, das eben seine ganze Familie ausgelöscht hatte. Und wenn man sie fragte, warum sie blieben, dann brachen die Antworten wie kleinlaute Entschuldigungen aus ihnen heraus: Man hätte keine Einwanderungspapiere in die USA bekommen, man vertrage das Klima in Israel nicht, man müsse sich um kranke Verwandte kümmern.

Der Vater blieb in Weiden in der Oberpfalz hängen

Ich fragte meinen Vater nicht. Denn irgendwie war mir klar, dass ich darauf keine Antwort bekommen konnte. Er blieb, wie so viele andere, hängen. Zur Verzweiflung meiner Mutter, die aus Dresden kam und nach der abermaligen Flucht vor antisemitischen Exzessen in der DDR der frühen Fünfzigerjahre zunächst in West-Berlin gelebt hatte, zog er von der bayerischen Kleinstadt, in der ihn und andere polnische Juden im Sommer 1945 ein amerikanischer Jeep abgesetzt hatte, nicht mal weiter nach Regensburg oder München, sondern blieb zeitlebens in Weiden in der Oberpfalz.

So wie ihm war es auch den etwa sechzig anderen Juden, die in dieser ostbayerischen Kleinstadt nahe der tschechoslowakischen Grenze eine neue jüdische Gemeinde gründeten, ergangen. Fast alle stammten aus Polen, sprachen untereinander Jiddisch und waren nicht selten im Rotlichtmilieu im Dunstkreis der amerikanischen Besatzer tätig. Die kleinen Gemeinden in Straubing und Regensburg und Fürth – oder in Amberg, Bamberg und Schmamberg, wie es diejenigen, die es bis nach München geschafft hatten, despektierlich ausdrückten – waren ähnlich strukturiert. Man lebte in einer Art Schtetl im Nachkriegsbayern.

Das letzte Schtetl existierte im oberbayerischen Föhrenwald, einem Stadtteil des Orts Wolfratshausen. Das dortige DP-Lager wurde erst 1957 aufgelöst. Für die bis dahin dort lebenden etwa 1500 jüdischen Bewohner war dieses Leben im Zwischenraum die ideale Lösung: Man musste nicht irgendwohin weiterwandern und ein neues Leben in einer unbekannten Umgebung mit fremder Sprache aufbauen, aber gleichzeitig auch nicht unter den Deutschen leben und sich darüber Gedanken machen, ob der Bäcker vielleicht den Großvater in Auschwitz ermordet hatte, ob der Friseur die Tante in Babyn Jar erschossen hatte oder ob der Polizist die im Warschauer Ghetto verhungerte Schwester auf dem Gewissen hatte.

In Föhrenwald war man unter sich, sprach Jiddisch, ging am Schabbes in die Schul und besorgte am Sonntag seine Geschäfte. So bewahrte man wenigstens seine kleine Freiheit, wenn schon die große in Israel unerreichbar schien.

Bis dann der Freistaat Bayern und die Bundesrepublik Deutschland entschieden, dass so ein Staat im Staate, der die Sonntagsruhe nicht befolgte, seine eigenen Lehrpläne aufstellte und gegen Razzien deutscher Beamte in Uniform allzu allergisch reagierte, nicht mehr zeitgemäß sei. So wurden die verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner, unter ihnen auch eine Reihe sogenannter hard-core-Fälle, die enttäuscht aus dem kriegsgeplagten Israel zurückgekehrt waren und sich nun wehrten, das Lager zu verlassen, zwangsweise nach München, Frankfurt und Düsseldorf umgesiedelt. Man war nun zwar nicht mehr allein, aber blieb zumindest teilweise weiterhin in den zugeteilten Wohnblocks unter sich.

Vor allem junge Männer hatten die Verfolgung überlebt

Auch in Weiden lebten die wenigen verbliebenen Juden in den Sechziger- und Siebzigerjahren weiterhin im Schatten der Vergangenheit, der auch die Kindheit der Nachgeborenen prägte. Die meisten Gemeindemitglieder hatten als junge und arbeitsfähige Männer die Verfolgungszeit überlebt, während Kinder, Alte und Frauen nur in wenigen Fällen Überlebenschancen hatten.

Oft sah man die nun schon etwas betagteren und beleibteren Herren mit Hut durch die Innenstadt schlendern. Sie kamen aus Polen und machten ihre Tagestour. Diese begann im Jüdischen Gemeindehaus, wo sie sich täglich zusammenfanden, um die jiddische Presse aus Israel, Frankreich und bis Anfang der Siebzigerjahre auch aus München zu lesen und sich über die neueste politische Entwicklung – das bedeutete meistens Bedrohung – auszutauschen.

Man hätte in den Flaneuren, die früher einen kleinen Schreibwarenladen, ein Textilgeschäft oder auch einen Nachtclub betrieben, Rentner sehen können, die wie die anderen betagten und beleibten Herren mit Hut auf der gegenüberliegenden Straßenseite unbeschwert durch ihre Heimat schlenderten. Aber wenn man ihren Gesprächen lauschte, dann erkannte man, dass sie sich nicht auf Bayerisch, sondern auf Jiddisch unterhielten und nicht von ihren Erlebnissen an der Front sprachen, sondern vom Schtetl, vom Ghetto und vom Konzentrationslager.

Samuel Lubowski hätte den Fußgängern auf der anderen Straßenseite erzählen können, wie er das Warschauer Ghetto überlebte, dann als einer der ganz wenigen lebend aus Majdanek herauskam und schließlich in Flossenbürg befreit wurde. Seine Frau dagegen wurde in Auschwitz vergast, auch seine beiden Schwestern und deren Männer und sechs Kinder. Doch diese Gespräche blieben immer auf die eine Straßenseite beschränkt, die andere Seite bekam sie nicht zu hören und wollte sie auch nicht hören. Man blieb unter sich.

In Gedanken schien mein Vater meistens woanders zu schweben

Die Tagestour setzte die kleine Gruppe im Café Büttner fort, wo man bei einem Glas Tee weiter die Weltpolitik oder das Leben in Weiden erörterte. Bis die Erinnerungen wieder hochkamen. Über einer Schokoladenbanane erzählte dann Max Bronner, wie seine Heimatstadt Oswiecim zur Todesmaschinerie Auschwitz wurde. Mendel Nisenzon aus Piotrkow berichtete, während er seinen Tee schlürfte, wie er unter falschem Namen versteckt war und sich jahrelang nicht auf die Straße traute, da er befürchtete, doch als Jude identifiziert zu werden. Auch seine Frau erlebte die Befreiung als Einzige ihrer Familie, kam aber mit der Freiheit nicht zurecht und nahm sich 1946 das Leben.

Hersch Lewkowitz dagegen sprach lieber nicht darüber, wie er als Teil des Sonderkommandos in Auschwitz die Leichen aus den Gaskammern in die Krematorien brachte. Dann kehrten die Rentner zurück in den safe space der jüdischen Gemeinde, wo sie in der jiddischen Zeitung von den Kriegen Israels, dem Antisemitismus in Europa und dem Verschwinden der jiddischen Kultur in Amerika lasen. Die noch Berufstätigen gingen in ihre Geschäfte und Etablissements zurück. Mein Vater verkaufte seine Stoffe und Gardinen in seinem während des deutschen Wirtschaftswunders auf drei Filialen angewachsenen Textilgeschäft. Wenn ich ihn beobachtete, schien er meistens in Gedanken irgendwo anders zu schweben.

Vielleicht dachte er gerade daran, wie sein Vater während einer SS-Razzia im Ghetto von Chrzanow zusammenbrach und ohne ärztliche Hilfe starb, wie seine Mutter wenig später ins nahe gelegene Auschwitz gebracht und umgebracht wurde und wie er selbst durch viele Wunder mehrere Konzentrationslager überlebte. Er war ein zurückhaltender und höflicher Mensch, der seine Kunden nicht danach fragte, was sie ein paar Jahrzehnte vorher getan hatten. Nur wenn er ab und zu ein Gespräch aufschnappte, in dem jemand sagte, aber der Hitler habe doch auch seine guten Seiten gehabt und uns die Autobahnen gebaut, erwiderte er leise: „Entschuldigung, aber die hat nicht der Herr Hitler gebaut, die habe ich gebaut. In meiner Häftlingskleidung im kalten schlesischen Winter.“ Er sagte es freilich so leise, dass nur er selbst es hörte.

Wie viele Nachgeborenen erfuhr ich nicht viel von seinen Erlebnissen. Die Überlebenden wollten ihre Kinder „normal“ aufwachsen sehen und sie vor der grausamen Vergangenheit schützen. Zumindest tagsüber gelang dies ganz gut. Doch nachts hatten sie keine Kontrolle darüber, wenn die Vergangenheit sie im Traum einholte und wir alle im Haus gelegentlich von Schreien aufgeweckt wurden. Dann wussten wir, dass sie auch Jahrzehnte später zwar befreit, aber nicht frei waren.

Michael Brenner ist Professor für Jüdische ­Geschichte und Kultur an der LMU München. Am 7. Mai hielt er auf Schloss Glienicke den Eröffnungsvortrag zur Tagung „80 Jahre Kriegsende: Jüdische Perspektiven auf Neuanfänge in Deutschland und Europa in der Nachkriegszeit“.

Quelle: F.A.Z.