„Muttersprache bleibt Muttersprache, im Deutschen fühle ich mich immer noch am ehesten zu Hause“, erzählt Michael Brenner, obwohl er schon lange abwechselnd in Washington und München jüdische Geschichte und Kultur unterrichtet und pandemiebedingt schon seit über einem Jahr nicht mehr in Deutschland war. Zerknirscht gibt er zu, dass er begeisterter Bayern-München-Fan ist, „auch wenn’s langweilig wird“, und aus Nostalgie zu Deutschland, wenn er in Washington ist, jede Woche die Bundesliga-Spiele und den Sonntagskrimi „Tatort“ schaut, mit den amerikanischen Sportarten Baseball oder Football kann er nichts anfangen.
Brenner ist internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts, des wichtigsten Forschungsinstituts für das Erbe des deutschsprachigen Judentums. Es geht um historisches und materielles Erbe, um Nachlässe, Archivbestände, Bibliotheken und Tagungen. Entstanden ist das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich in den wichtigsten Zentren der Emigration, in Israel, den USA und England führende intellektuelle deutschsprachige Juden wie Hannah Arendt und Martin Buber versammelten, um gemeinsam zu überlegen, wie sich das im Krieg fast zerstörte kulturelle deutsch-jüdische Vermächtnis am Leben erhalten ließe. Sie gründeten in Jerusalem, New York und London das Leo Baeck Institut, benannt nach dem Rabbiner und Holocaust-Überlebenden Leo Baeck.
Brenner hatte schon lange, bevor er 2013 Präsident wurde, eine Beziehung zum Institut. Nämlich als er in New York promovierte und nebenher eine Teilzeitstelle suchte. Der junge Doktorand wurde Mitarbeiter im Archiv des Instituts, als es noch in der Upper East Side war und Historiker wie Jacob Katz auf den ersten Tagungen sprachen, welche in Deutschland gelebt hatten und die Vorkriegskultur repräsentierten.
Bis heute arbeitet jedes Institut autonom. Schon lange bevor das Computerprogramm „Zoom“ durch die Coronapandemie populär wurde, hätten sich die Leiter der Standorte alle zwei Monate darüber getroffen, erzählt Brenner schmunzelnd. In New York ist das größte, das kleinere Londoner bringt die Zeitschrift Leo Baeck Institute Year Book heraus, in Jerusalem werden viele Tagungen organisiert, seit ein paar Jahren gibt es auch eine Berliner Dependance des New Yorker Standorts, außerdem einen gemeinnützigen Verein mit Sitz in Frankfurt. Nicht zu vergessen die seit 1989 bestehende Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Instituts, die junge Doktorand*innen mit dem Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte zusammenbringt und in der seinerzeit schon viele derer aktiv waren, die heute auf dem Gebiet forschen.
Ein großer Teil der Finanzierung kommt vom Bundesinnenministerium, aber jedes Institut muss auch privat Geld einwerben. Zum Beispiel für die zahlreichen internationalen Tagungen. Bei der letzten im Jahr 2020 ging es um Juden und Muslime in der deutschen Geschichte. Brenner findet es wichtig, die deutsch-jüdische Geschichte etwa auch jenen zu vermitteln, deren Wurzeln in arabischen Ländern liegen. Gerade arbeiten Wissenschaftler*innen des Instituts an einem Projekt über die Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora. Wie ging das Leben der emigrierten Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Emigrationsländern weiter? Wie überlebte deutsch-jüdische Kultur zwischen Shanghai, Montevideo und Jerusalem? Eine Gesamtgeschichte der deutsch-jüdischen Diaspora gebe es bisher nicht, das sei „ein heißes Eisen“. Drei Standardwerke in dieser Instituts-Tradition gibt es schon: die Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Die Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945 und die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart.
Die für die Forschung und Aufrechterhaltung notwendigen privaten Mittel für das Institut einzuwerben wird Brenner zufolge aber immer schwieriger, weil die erste Generation der Emigranten noch mehr für die Bewahrung ihres Erbes übrig hatte als die zweite oder gar dritte, der die deutsch-jüdische Vergangenheit oft schon sehr fern liegt. Da die Leo Baeck Institute aber ähnlich wie die Goethe-Institute deutsches Kulturerbe im Ausland repräsentieren, hält es Brenner für angebracht, dass die deutsche Regierung sich künftig finanziell noch mehr einbringt.
Er selbst stammt aus einer jüdischen Familie, 1964 ist er in Weiden in der Oberpfalz geboren und dort auch zur Schule gegangen. Seine beiden Eltern sind Holocaust-Überlebende, sein Vater aus Krakau, seine Mutter aus Dresden. Im Gymnasium war er der einzige jüdische Schüler. Geschichte war aber ohnehin immer präsent in seinem Elternhaus, sein Vater hatte viele Bücher zu historischen Themen zu Hause. Brenner entdeckte die jüdische Geschichte aber noch mehr für sich, als er in der zehnten Klasse an einem Wettbewerb mit einer Arbeit über Weidener Juden teilnahm. Zum ersten Mal sprach er mit seinen Eltern darüber, und er schrieb die 40 noch lebenden Gemeindemitglieder in der ganzen Welt an, verstreut von der Dominikanischen Republik über Neuseeland und Israel. Als der Teenager sich dann später für Jüdische Studien in Heidelberg entschied, war er damit „ziemlich allein auf weiter Flur“, die Freunde studierten eher praktische Dinge wie Medizin oder Jura. Nach seiner Promotion an der Columbia University in New York wurde er mit 33 Professor in München am ersten Lehrstuhl für jüdische Geschichte überhaupt an einer deutschen Universität, Brenner fuhr selbst zu Ikea, um die Büromöbel zu kaufen. 2013 kam ein Lehrstuhl an der American University in Washington hinzu. Seither ist er in Deutschland und den USA zu Hause.
Ist es dort leichter, jüdisch zu sein? Ja, sagt Brenner. „Man wird nicht dauernd durch die Linse des Holocaust wahrgenommen und gehört nicht zu einer Minderheit. Hier wünscht einem nicht jeder gleich ‚Frohe Weihnachten‘, egal ob man Jude oder Muslim ist, sondern ‚happy holidays‘, weil man davon ausgeht, dass es viele Menschen gibt, die keine christlichen Feiertage begehen.“
Man merkt, dass es Brenner ein persönliches Anliegen ist, dass der Blick auf die jüdische Geschichte in Deutschland nicht verengt ist. So mag man sich auch erklären, warum er sich, mit allen Titeln und Ehren bis hin zum Bundesverdienstkreuz geschlagen, trotzdem noch ehrenamtlich für das Leo Baeck Institut engagiert. Schon lange, bevor es Deutschland und seine Christianisierung überhaupt gegeben habe, seien Jüdinnen und Juden mit den Römer*innen nach Deutschland gekommen. Diese lange Geschichte und Kultur von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu dokumentieren sei Aufgabe des Leo Baeck Instituts. Gerade dokumentiert beispielsweise die virtuelle Ausstellung „Shared History Project“ 1.700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum.
Doch so sehr sein Ehrenamt auch eine Beschäftigung mit seinen eigenen Wurzeln ist, so sehr betrachtet Brenner die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland mit Sorge. Angefangen von der Partei „Alternative für Deutschland“ in den Parlamenten über eine gefährliche Entwicklung in islamistischen Kreisen bis hin zu einer Manifestierung des Antisemitismus in Form von tätlichen Übergriffen. „Das sind schon Entwicklungen, die man als historisch bewusster Mensch nur mit Sorge sehen kann. Insofern ist es umso wichtiger, dass wir diese Geschichte vermitteln, und wenn es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Was anderes können wir einfach nicht tun.“