Inspiriert vom Leitsatz des erfolgreichen Exil-Podcasts fand am 3. November in Berlin ein Symposium zu den Schwerpunkten Machtlosigkeit, Resilienz und Selbstermächtigung aus deutsch-jüdischer Perspektive statt. Das LBI New York | Berlin hat unter der Leitung von Dr. Miriam Bistrovic eingeladen, die auch für das äußerst diverse und spannende Programm verantwortlich war. Die Beiträge haben alle auf ihre Art neue Perspektiven auf bekannte Themenfelder geboten und zeugen von einem höchst lebendigen, zeitgemäßen Forschungsgeschehen rund um die jüdische Geschichte bis in die Gegenwart.
Bistrovic betont in ihrer Einführung die Stellung des LBI auch als eine Art geistigen Zufluchtsort, an dem die Vielstimmigkeit deutsch-jüdischer Geschichte bewahrt und wiedergegeben wird. Geschichte sei als etwas Gegenwärtiges zu betrachten, und man arbeite bereits jetzt daran, auch in einer Zukunft ohne Zeitzeug:innen das geschichtliche Erbe lebendig zu halten.
Der Historiker Dr. David Jünger sprach in seine Vortrag über eine regelrechte Besuchswelle nach Palästina in den frühen 1930er Jahren. Deutsche Jüdinnen und Juden besuchten das Land teils zur Erholung, teils, um Familie zu besuchen, doch viele emigrierten nicht bzw. remigrierten ins nationalsozialistische Deutschland. Jünger sprach über die komplexen Hintergründe dieser besonders aus heutiger Sicht viele überraschenden Thematik. Ein Hindernis im Verständnis sei ein teleologisches Geschichtsverständnis, das die ersten Jahre des Nationalsozialismus ausschließlich als Vorgeschichte der Schoah betrachtet. Ein besseres Verständnis der Geschichte müsse diesen Hindsight Bias oder das Backshadowing kritisch hinterfragen. Eine Hinwendung zu Biographien von Zeitzeug:innen zeigt, dass die Geschichte weitaus komplexer war und für die Akteur:innen ganz individuelle Push-Pull-Faktoren eine Rolle spielten bei der Abwägung, im Land zu bleiben oder es zu verlassen – bis es irgendwann nicht mehr möglich war. David Jünger betont die Wichtigkeit von Projekten wie dem Exil-Podcast, in welchem Fragen jenseits althergebrachter Muster angegangen werden und komplexen Migrationsgeschichten gerecht wird.
Dr. Kerstin Schoor sprach in ihrem Vortrag über den Schriftsteller Rudolf Frank und die humanitäre Funktion von Literatur als Überlebenshilfe. Schon im nationalsozialistischen Deutschland entstand Literatur im Exil- und Diaspora-Kontext. Franks Bücher waren Produkte existenzieller Not.
Im anschließenden Panel sprachen Dr. Elke-Vera Kotowski und Dr. Sigalit Meidler-Waks über die Maler:innen Eugen Spiro und Lotte Laserstein. Beide gehörten keiner künstlerischen Strömung an; Spiro war einer der wichtigsten Portraitmaler der Weimarer Republik, ist heute jedoch fast vergessen. In Lotte Lasersteins Werk ist nach dem Exil ein künstlerischer Bruch zu erkennen, so die Einschätzung der Expertin. Am Bild »Abend über Potsdam« sei eine gewisse Vorahnung, ein Abschied zu spüren. Posthum erlangte Laserstein beträchtliche Anerkennung, nicht zuletzt durch die prominente Hängung ihres Werks in der Berliner Nationalgalerie.
Dr. Andrea Löw kritisiert in ihrem Vortrag die Behauptung des Holocaustforschers Raul Hilberg, der in seinem Werk der jüdischen Bevölkerung Europas eine Passivität und Widerstandslosigkeit zuschreibt. Löw hingegen betont die besonderen Umstände der oft in Ghettos und isoliert voneinander lebenden Jüdinnen und Juden, deren täglicher Kampf sich stark von dem anderer Gruppen zur Zeit des Nationalsozialismus unterschied. Zwar gab es auch jüdischen bewaffneten Widerstand, doch bestand ihr Kampf oft vor allem darin, zu überleben und sich Nahrung zu beschaffen. Darüber hinaus gab es Anstrengungen, weiterhin für Bildung zu sorgen. Im Warschauer Ghetto entstand ein Untergrundarchiv unter Führung von Emanuel Ringelblum, das die Zeit der deutschen Besatzung Polens dokumentierte. Es gab Sabotageakte und ganz individuelle Formen des Sich-Widersetzens gegen alltägliche Zwänge. Andrea Löws Aussage, man solle sich nicht fragen, warum Jüdinnen und Juden keinen Widerstand geleistet hätten, sondern wie sie es trotz alledem geschafft haben, Widerstand zu leisten, war sehr eindrücklich und eine wesentliche Erkenntnis dieses Sonntagnachmittags, der sich mit Macht und Ohnmacht auseinandersetzte.
Monty Ott, Historiker und Aktivist,Antisemitismusforscher und Experte für queere Themen, sprach über die allgemeine Entsolidarisierung jüdischer Menschen und zeichnet die Geschichte antisemitischer Gewalt nach, die schon weit vor dem 7. Oktober begann. Er kritisierte auch die Erinnerungsarbeit, die im Grunde genommen bereits ausreichend geleistet wurde; das Material liege längst reichlich vor, aber es werde einfach nicht wahrgenommen. Man dürfe sich zudem nicht mehr auf nichtjüdische Menschen verlassen, sondern müsse eigene positive Bilder schaffen im Kampf gegen Judenhass.
In der folgenden Diskussion sprach die Historikerin Dr. Karina Urbach über ihre Großmutter Alice Urbach, deren erfolgreiches Kochbuch »So kocht man in Wien« von den Nazis »arisiert« wurde. Doch die Geschichte, die auch in einer Folge des Exil-Podcasts nacherzählt wird, erhält ein gewisses sehr spätes Happy End. Dr. Sven Haase und Dr. Meike Hoffmann beschäftigen sich mit der Provenienzforschung und erklärten ihre Arbeit an den Beispielen am Berliner Zentralarchiv und dem Projekt der Freien Universität zu Adolf Sultan.
Die Veranstaltung wurde beendet mit einer szenischen Lesung durch die Schauspieler:innen Gesine Cukrowski, Anne-Marie Lux und Manuel Mairhofer, die die bewegende, fast unglaubliche – und auch etwas romantische – Geschichte eines jüdischen Paares in Zeiten des Nationalsozialismus auf beeindruckende Weise darboten.